Neue Musik: Neues Hören. Nicht der Versuch zu verstehen, was gesagt wird, denn wenn etwas gesagt werden würde, wären die Klänge Wörter. Einfach Aufmerksamkeit für die Aktivität der Klänge. - John Cage(1)
Im Aachen Musicircus on Europeras habe ich das Kompositionsverfahren, mit dem John Cage seine Opern Europeras erstellte, mit seinem Konzept des Musicircus verbunden. In diesem werden von räumlich verteilten Musikern oder Ensembles verschiedene Musikstücke in einem zufallsbestimmten Programm überlagert, während das Publikum frei ist, sich zwischen den Musikern zu bewegen. In den Europeras überlagerte Cage ebenfalls vorgefundene Musik in unvermittelter Gleichzeitigkeit, hielt jedoch an der Bühnensituation des traditionellen Musiktheaters fest. Außerdem sind hier nur die Arien als vollständige Musik-Nummern erhalten geblieben. Die Musiker des Orchesters in Europeras 1&2 und die Pianisten und DJs in den Kammeropern Europeras 3‑5 spielen hingegen zufallsbestimmte Fragmente aus ihren Stimmen respektive aus Operntranskriptionen und Schallplatten.
Cage hat immer wieder Stücke nach bestimmten Kompositionsmodellen entwickelt und später in Verbal-Partituren für andere Autoren die Möglichkeit eröffnet, mit den gleichen Modellen neue Stücke zu kreieren. Die Partitur Circus on, die Cage nach Abschluss seines Tonband-Stückes Roaratorio. An Irish Circus on Finnigans Wake angefertigt hat, ist hierfür ein Beispiel. Ich habe sie 2001 als Urban Circus on Berlin Alexanderplatz für Sprecher und 64‑Kanal-Tonband realisiert.
Mit dem Aachen Musicircus on Europeras habe ich nach den den Europeras 1&2 zugrundeliegenden Kompositionsprinzipien eine ortsspezifische neue Realisation der Europeras angefertigt und diese mit dem Modell des raumbezogenen Musicircus verbunden. Die völlig neu erstellten Orchesterstimmen enthalten ausschließlich Fragmente aus Opern, die in dieser Spielzeit im Theater Aachen auf dem Spielplan stehen: Peter Grimes von Benjamin Britten, Händels Agrippina, Mozarts La clemenza di Tito, La Périchole von Offenbach, Rossinis Mosè, La Triviata und Otello von Verdi und Wagners Walküre. Auch die Sänger interpretieren einzig Nummern aus diesen Opern, allerdings nicht allein Arien, sondern auch Einzelstimmen aus Duetten und Ensembles. Auch die Positionen der Sänger, ihre Kostüm-Wechsel, die Bewegungen der einzelnen Elemente des Bühnenbildes und die Veränderungen der Beleuchtung folgen zufallsbestimmten Partituren.
Der Aachen Musicircus on Europeras beginnt wie Cages Opern auf der Bühne. Nach zwanzig Minuten verlassen die Musiker jedoch nach und nach den Orchestergraben und nehmen Spielpositionen im gesamten Haus ein: in den Foyers und später auch im Bühnenhaus. Die 42 Musiker wechseln zwischen zwölf verschiedenen Orten im Haus. Wenn nach 45 Minuten der letzte Musiker den Graben verlassen hat, ist die Aktion im Saal zunächst beendet und das Publikum wird den Klängen in den Außenraum folgen. Hier begegnet es nicht nur den acht Sängern wieder, sondern auch einer Realisation von Cages Fontana Mix für Achtkanal-Tonband, die Klänge aus Aachen und seinem Theater, sowie Cages historisches Tonband von 1958 zur Grundlage hat.
Parallel zu diesem Musicircus spielt im Parkett-Foyer eine Klaviertrio aus Flügel und zwei DJs an historischen Grammophonen Original-Stimmen aus Cages Kammeroper Europera 3. Das Trio weist voraus auf die sich an den zweistündigen Musicircus anschließende originale Aufführung der halbstündigen Europera 4 für zwei Sänger, Klavier und DJs.
Volker Straebel
(1) John Cage: Experimental Music [1957], in ders: Silence. Lectures and Writings. Wesleyan University Press 1961, S.7-12, hier S.10