John Cage: Urban Circus on Berlin Alexanderplatz

Realisation von "Circus on" (1979)
nach Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz"

von Volker Straebel

 

Uraufführung am 24. Januar 2001 um 20.00 Uhr
im Großen Sendesaal des Sender Freies Berlin, Haus des Rundfunks, Masurenallee 4-14

Einführungvortrag am 23. Januar 2001 um 17.00 Uhr
im Institut für Neue Musik der Hochschule der Künste Berlin, Bundesallee 1-12

Veranstaltungen im Rahmen des Festivals "Ultraschall" von Deutschlandradio Berlin und SFB

 

Sprecher
Hanns Zischler

Ton und Technik
Peter Avar, Andreas Neumann, Jean Szymczak, Torsten Weigelt

Archivrecherche
Anouschka Trocker, Anja Penner-Wenz

 

 

1979 realisierte John Cage am IRCAM Paris und im WDR Köln das radiophone Hörstück "ROARATORIO, an Irish Circus on Finnegans Wake" für Sprecher, irische Musiker und 62-Spur Tonband. Nachträglich erstellte er die Verbal-Partitur "CIRCUS ON, means for translating any book into a performance without actors, a performance which is both literary and musical or one or the other" (1979), nach der die in ROARATORIO verwendeten Verfahren auf jede literarische Vorlage übertragen werden können.

Die Partitur besteht aus sieben Anweisungen:

  1. Auswahl eines Buches.
  2. Verdichtung des Ausgangstextes nach einem algorithmischen Verfahren (Mesosticha). Tonaufnahme der Lesung dieses Textes. Die einzelnen Kapitel werden durch Pausen voneinander getrennt.
  3. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Orte.
  4. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Klänge.
  5. Tonaufnahme von (3) und (4). Diese werden entsprechend ihres Auftretens im Originaltext zeitlich an dem verdichteten Text ausgerichtet. Zufallsoperationen bestimmen a) Stereo-Position, b) Dauer, c) Einschwingvorgang, d) Lautstärke, e) Ausschwingvorgang.
  6. Tonaufnahmen zweckdienlicher Musik ("relevant music") oder komponierte Variationen dieser Solos werden zu einem zufallsbestimmten Circus überlagert. Jeder (Solist? Plattenspieler?) hat wenigstens doppelt so viel Stille wie Musik.
  7. Erstellen eines Mehrspurbandes aus dem erzeugten Material. Wiedergabe über ein Stereo-System oder in anderer Form, so dass die verschiedenen Schichten in beliebiger Kombination hörbar werden. (2) und (6) können auch live aufgeführt werden.

 

CIRCUS ON wurde mit Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" von 1929 realisiert. Der Titel lautet "Urban Circus on Berlin Alexanderplatz".

Der gesprochene Text besteht aus 120 zwölfzeiligen Mesosticha. Das sind Gedicht-Strophen, in denen die in der Versmitte stehenden Buchstaben von oben nach unten gelesen ein Wort oder einen Satz ergeben. Diese Mittellinie lautet hier "Alfred Döblin". (Cage verlangt den Namen des Autors oder den Titel des Ausgangstextes. Wegen des in "Berlin Alexanderplatz" auftretenden sehr seltenen "x" fiel die Wahl auf den Namen des Autors).

 

                         Am
                        aLexanderplatz
                         Feinkost
                     anfeRtigung
                        mEhl und mühlenfabrikate
                       erDrosselt
        verbot aller pfänDungen
            nährkraft bekÖmmlichkeit
                     haltBarkeit
                    wachaLarm
                 grundbesItzer
                    vereiNigter betrieb

 

Dieses Mesostichon entstammt den Beginn des vierten von neun Büchern von "Berlin Alexanderplatz". Es folgt Cages Regel für ein "unvollkommendes" oder 50% Mesostichon: "Ein Mesostichon wird erstellt, indem man das erste Wort des Buches sucht, das den ersten Buchstaben der gewünschten Mittellinie enthält, ohne dass ihm der zweite Buchstabe der Mittellinie im gleichen Wort folgt. Der zweite Buchstabe gehört in die zweite Zeile und wird in einem Wort gefunden, das danach nicht den dritten Buchstaben der Mittellinie enthält, usf. [...] Andere, die so ausgewählten unmittelbar umgebende Wörter [...] des Originaltextes können nach Geschmack hinzugefügt werden", sie dürfen jedoch nicht die oben aufgestellte Regel verletzten.

Um den Text weiter zu kürzen werden die Silben, die die Mittellinie kreuzen, in dieser Position nur einmal verwendet. Dies führt zur zunehmenden Verdichtung des Textes zum Ende hin, weil immer mehr Silben aufgebraucht werden und weniger Wörter für die Mittellinie der Mesosticha in Frage kommen. Sollte ein Mesostichon am Ende eines der Bücher des Romans unvollständig bleiben, wird es mit Material vom Beginn des jeweiligen Buches zu Ende geführt.

 

In "Berlin Alexanderplatz" werden 995 Orte erwähnt, wenn man unmittelbare Wiederholungen unberücksichtigt lässt. Im "Urban Circus" wurden - Cages Vorschlag entsprechend - nur so viele Orte berücksichtigt, wie der verwendete Roman Seiten hat: 447. Diese Orte wurden unter Verwendung alter Stadt- und Straßenbahnpläne historisch möglichst genau rekonstruiert und akustisch aufgezeichnet. Innenräume blieben dann unberücksichtigt, wenn die entsprechenden Gebäude nicht mehr existieren (wie zum Beispiel das Polizei-Präsidium am Alexanderplatz oder der Stettiner Bahnhof) und keine historischen Aufnahmen zu ermitteln waren. Tonaufnahmen von weiter entfernt liegenden Orten wurden dem SFB-Archiv entnommen oder von befreundeten Klangkünstlern und Komponisten zur Verfügung gestellt.

Sieht man von unmittelbaren Wiederholungen ab, werden in "Berlin Alexanderplatz" 732 Geräusche erwähnt, davon 152 Musikstücke. Cage erlaubt, die Geräusche in Kategorien einzuteilen und auf die Verwendung einzelner Kategorien zu verzichten. Im "Urban Circus" bleiben einzig 51 lautmalerisch beschriebene Geräusche unberücksichtigt. Die Musikstücke erscheinen grundsätzlich in Einspielungen aus der Zeit vor 1930; solche Aufnahmen, deren Produktionsdatum in den Archiven nicht genau dokumentiert ist, können auch etwas später entstanden sein. Die übrigen Geräusche wurden dem SFB-Archiv entnommen.

 

Der gesprochene Text bildet die Zeitleiste, an der die Wiedergabe der Orte und Geräusche ausgerichtet ist. Die zwölf Zeilen des oben zitierten Mesostichons beispielsweise entsprechen 48 Zeilen im Roman. Die in diesem Textabschnitt erwähnten Orte und Geräusche erklingen in der Zeit, in der das korrespondierende Mesostichon gesprochen wird.

16 Lautsprecher sind in zwei konzentrischen Kreisen zu je acht Kanälen angeordnet. Der äußere Kreis (1-8) umgibt das Publikum, der innere (9-16) läuft durch das Publikum und besteht aus kugelförmig abstrahlenden Schallquellen. Außen erklingen die stereophon aufgezeichneten Orte, die auf acht überlappenden Positionen wiedergegeben werden (Kanal 1-3, 2-4, etc). Die Geräusche erscheinen monophon auf allen Kanälen (1-16).

Der Sprecher agiert live von drei Positionen aus, die er an den Übergängen der neun Bücher wechselt. Diese Sprechpositionen befinden sich zwischen den beiden konzentrischen Lautsprecherkreisen. Die verstärkte Sprache wird wie die Kanäle des Innenkreises in alle Richtungen abgestrahlt.

Die zusätzliche "relevant music" schließlich wird nicht live gespielt sondern besteht ausschließlich aus situativer Musik aus dem historischen Hörspiel "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" (1930) und Phil Jutzis Film "Berlin Alexanderplatz" (1931) mit Heinrich George, an deren Realisation Alfred Döblin selbst mitwirkte. Beide Quellen werden bei der zufälligen Organisation von Reihenfolge der Stücke, Einsatzzeitpunkt und verwendetem Lautsprecher (Kanäle 1-16) als voneinander unabhängige Spieler betrachtet.

 

Volker Straebel 12.00

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leicht verändert im Programmbuch des Festivals "Ultraschall"
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