"Tintenfraß Bach"
von Linda Schwarz und Volker Straebel

Verbal-Partitur

 

 

Die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach (BWV 1007-1012) sind in der Handschrift Anna Magdalena Bachs überliefert (Staatsbibliothek Berlin). Das Manuskript ist vom Tintenfraß befallen. Die eisenhaltige Tinte zerstört nach und nach das Papier an den beschriebenen Stellen, wodurch einzelne Elemente des Notentextes auf die jeweils andere Seite eines Blattes durchschlagen.

 

Die konzeptionelle Partitur "Tintenfraß Bach" besteht aus diesen durchgeschlagenen Tintenfraßzeichen. Sie erscheinen Zeile für Zeile krebsläufig auf der jeweiligen Gegenseite eines jeden Blattes.

Die Manuskriptblätter (folio, fol.) werden mit Vorderseite (recto, r) und Rückseite (verso, v) gezählt. Teile der auf die Vorderseite (zum Beispiel fol.2r) notierten Zeichen schlagen auf die Rückseite (dann fol.2v) durch, und umgekehrt Zeichen von der Rückseite (fol.2v) auf die Vorderseite (fol.2r).

 

Die Tintenfraßzeichen werden von einem Cellisten als graphische Notation interpretiert, und zwar von der Seite aus, auf die sie durchgeschlagen sind. Der räumlichen Orientierung auf dem Partiturblatt dienen Hilfslinien, die als Transparente darüber gelegt werden, und zwar

i) die Mittellinien (kleines d) oder

ii) die Außenlinien (kleines a und großes G) der Notensysteme (Bassschlüssel) der Seite, von der aus der Tintenfraß gelesen wird (beim Tintenfraß auf fol.2r von fol.2v sind dies die Notenlinien auf fol.2r).

 

Darüberhinaus gibt es für jedes Partiturblatt ein weiteres Transparent

iii) mit Mittellinie und Außenlinien (kleines a, kleines d, großes G), sowie Schlüsseln, Taktarten und Taktstrichen, Versetzungszeichen, Ligaturen und Artikulationsangaben der Gegenseite, also den genaueren Informationen zu den Tintenfraßzeichen aus der Perspektive ihrer Entstehung.

 

Die Blätter mit den faksimilierten Seiten der Handschrift, in die die auf gewöhnlichen Reproduktionen kaum oder nicht sichtbaren Tintenfraßzeichen eingetragen wurden, dienen allein der Dokumentation und sind nicht zum Spielen bestimmt.

 

* * *

 

Für eine Aufführung wählt ein Cellist eine beliebige Anzahl von unmittelbar aufeinander folgenden Partiturblättern einer Cello-Suite aus.

 

Die Zeit ist proportional zu den horizontalen Abständen der Tintenfraßzeichen, die Tonhöhe ist proportional zur Vertikalen und benutzt die in den Transparenten gegebenen Linien als Referenz (i) oder Maßstab (ii).

Da eine diatonische Orientierung fehlt, ist die mikrotonale Interpretation der Intervalle naheliegend.

Der Cellist kann die in (iii) gegebenen Informationen berücksichtigen oder nicht.

Ob er den graphischen Notentext live während der Aufführung interpretiert oder eine ausnotierte Realisation zur Aufführung bringt, bleibt dem Musiker vorbehalten. Die Tintenfraßzeichen können in ihrer räumlichen Orientierung natürlich auch vermessen werden (z.B. mit Millimeter-Papier).

 

Bei einer Aufführung kann der Cellist durchgeschlagene Zeichen, die keine Notenköpfe sind, ihrer Bedeutung entsprechend (Legatobögen, Sechszehntel-Balken für Tonfolgen außerhalb des übrigen Zeitmaßes) oder als graphisch notierte Glissandi interpretieren.

 

Jede Seite bildet einen Satz. Jede Seite wird vollständig gespielt.

Für alle Systeme einer Seite gilt die gleiche Dauer.

Für alle Sätze einer Aufführung gilt das gleiche Interpretationsverfahren (gewählte(s) Transparent(e), Umgang mit Balken und Bögen).

 

Der Titel einer Aufführung lautet "Tintenfraß Bach" gefolgt von den gespielten Seiten, z.B. "Tintenfraß Bach fol.2r fol.2v fol.3r".

Mehrere Aufführungen aus verschiedenen Suiten können in einem Konzert kombiniert werden. Dabei erscheinen die Suiten stets in aufsteigender Folge.

 

 

Stand: 15.5.2000 / alle Rechte vorbehalten

Linda Schwarz
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Volker Straebel
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