Streitbar

Karlheinz Stockhausen zum 70. Geburtstag

Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1955. In einer "Musikkritschen Diskussion" fragt der Flötist Kurt Redel einen jungen Komponisten nach dem theoretischen Hintergrund seiner zwei Tage zuvor uraufgeführten Klavierstücke V-VIII: "Wir sind doch alle vom Métier, wir können uns doch verständigen." Doch der 27jährige, dessen Konzert in einem Eklat geendet hatte, antwortet spitz: "Wer ist hier von meinem Métier?" und erntet Buhrufe und Applaus, wie bei den Aufführungen seiner Musik.

So ist es bei Karlheinz Stockhausen, der heute seinen siebzigsten Geburtstag begeht, geblieben, nur daß das Buhen inzwischen allgemein aus der Mode gekommen ist. An seinen Werken wie an seiner Person teilt sich die Musikwelt in Anhänger und Feinde, in Bewunderer seines opus magnum, dem 1977 begonnenen Opernzyklus Licht auf die sieben Tage der Woche, und Verächter dessen vorgeblichen kosmischen Mystizismus. Dabei war es Stockhausen nie, auch nicht in der kurzen Periode, in der er den Fluxus-Künstlern nahe stand (Originale 1961), um bloße Provokation zu tun. Seine polarisierende Wirkung liegt in seinem unbedingten Gegenwartsbezug, seinem Forscherdrang, der gesellschaftliche wie kompositorische Entwicklungen aufspürt und thematisiert, noch ehe sie Allgemeingut werden. Fast immer war Stockhausen der erste, und so werden wir einige Zeit brauchen um zu entscheiden, ob das einem jetzt zwanzig Jahre alten Entwurf folgende Licht als Sackgasse oder befreiender Ausweg gegenwärtigen Komponierens gelten soll.

Nach kurzer Studienzeit in Köln - der vom Krieg zurückgelassene Waise verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Barpianist und musikalischer Begleiter von Karnevals- und Varieté-Veranstaltungen - macht Stockhausen als 23jähriger in Darmstadt Furore. Sein Kreuzspiel für Oboe, Baßklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger gilt heute als Musterbeispiel seriellen Komponierens in der Webernnachfolge, 1952 endete die Uraufführung in Gelächter und Pfiffen. Die für uns selbstverständliche Erfahrung, daß Musik keine Melodie und keinen unmittelbar nachvollziehbaren Rhythmus haben muß, daß sie zerfallen kann in isolierte Tonpunkte, die einem globalen Formkonzept folgen mögen, deren kleingliedrigen Zusammenhang jedoch nur der Hörer selbst konstituiert, war im Deutschland der Nachkriegszeit befremdlich und verstörend. Und die Organisation von Tonhöhe und -dauer, Lage und Lautstärke in mathematischen Reihen brachten dieser Musik rasch den Vorwurf seelenloser Konstruktion ein - wo der Komponist nach der "Vollkommenheit von Ordnung" und dem "Aufgehen des Einzelnen im Ganzen, des Verschiedenen im Einheitlichen" strebte. (Daß die Darmstädter Hesses Glasperlenspiel unter ihren Kopfkissen hatten, ist eine nicht zu widerlegende Legende).

Im gleichen Jahr folgt in Donaueschingen Spiel für Orchester und der Vertrag mit der Universal Edition Wien, 1953 das kammermusikalische "Klavierkonzert" Kontra-Punkte, das Opus 1 in Stockhausens eigener Zählung. Der Komponist ist neben Pierre Boulez und Luigi Nono die treibende Kraft der Zeitgenössischen Musik in Europa, mit beiden verbinden ihn Freundschaften, die später an ästhetischen Konflikten zerbrechen. Von nun an schreibt er Kompositionsgeschichte mit jedem neuen Werk. Wo andere an einem Stil oder Verfahren festhalten, entwickelt Stockhausen die Musik rastlos weiter und scheint mit seinen Stücken einzelne Kompositionsweisen jeweils einmal zu exemplifizieren. Auf punktuelle Musik folgt die Gruppenkomposition, frühe Tonbandstücke (1953/54) beeinflussen die Instrumentalmusik, es entstehen erste Raummusiken, Wandelkonzerte, und schließlich führen offene Formen und graphische Notationen zur Intuitiven Musik, der von kurzen Texten angeregten Gruppenimprovisation. Der Pionier Elektronischer Musik verschmilzt im Gesang der Jünglinge 1955/56 künstliche Klänge mit einer Knabenstimme und setzt sich dem Vorwurf der Blasphemie aus. 1966 erfindet er mit dem im Japan produzierten Tonbandstück Telemusik die Weltmusik, die nicht mehr "seine" Musik sein soll, "sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen" und traditionelle Musik aus Spanien, Bali, der Sahara, China und Vietnam verbindet.

Spätestens seit seinen Konzerten im Kugelauditorium von Osaka, dem deutschen Pavillon der Weltausstellung 1970, gilt Stockhausen dem breiten Publikum als Inbegriff der Neuen Musik. Kein anderer lebender "ernster" Komponist hat seinen Bekanntheitsgrad erreicht, kein anderer hat Rock-Größen wie John Lennon, Frank Zappa, The Greatful Dead oder David Bowie so nachhaltig beeinflußt. Seit seiner Hinwendung zum Spirituellen um 1968 haftet ihm jedoch auch das Vorurteil des weltabgewandten Mystikers an. Tatsächlich beschäftigt sich Stockhausen kaum noch mit der Musik anderer und lebt zurückgezogen in Kürten bei Köln, umgeben von einem engen Kreis von Freunden und Mitarbeitern. Hier entwarf er sein in Licht ausgebreitetes Weltenmodell, das den übersinnlichen Kampf des Guten gegen das Böse zum Gegenstand hat. Der Komponist, der sich über die Verwendung von Texten in der Musik mit Nono entzweite, tritt in seinem Alterswerk in die Fußstapfen Wagners. Seine Äußerungen über die Wiedergeburt und darüber, daß er auf Sirius seine musikalische Ausbildung erfahren habe, machten ihn bald für den intellektuellen Diskurs verdächtig. Doch seit etwa fünf Jahren schickt die Musikwissenschaft sich an, bei Stockhausen das Tönezählen zu Gunsten der Suche nach der "religiösen Grundlegung" seines Werkes zu vernachlässigen und die frühe Phase seriellen Komponierens vom gegenwärtigen Horizont kosmischen Denkens her zu begreifen. Ein hermeneutisch unsicherer Pfad. Aber mit und über Stockhausen ließ sich schon immer trefflich streiten.

Volker Straebel 8.98

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leicht verändert unter dem Titel "Der mystische Revolutionär" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 22.Aug. 1998
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