Bis ein Bombentreffer 1943 ihr Carillon zerstörte, hatte die Parochialkirche in Berlin-Mitte über zweihundert Jahre lang akustisch Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Turm beherbergte ein Walzensystem, auf dem sich stündlich wechselnde Choräle ebenso "programmieren" ließen wie später das Horst-Wessel-Lied. Diese Tradition der "Sing-Uhr", wie der Volksmund das ausgefeilte Spielwerk einst taufte, will nun der Verein Kunst in Parochial wieder aufnehmen. Im ehemaligen Glockenraum der Kirche richtete er Berlins erste feste "Hörgalerie" ein, die in den Sommermonaten wechselnde Klanginstallationen beherbergen wird.
Über eine lange Wendeltreppe steigt der Besucher in den Turm hinauf. Wer sich hier aufmacht, um zu hören, wird schon auf dem Weg überrascht. Denn aus versteckten Lautsprechern dringen bereits hier, unerwartet zunächst, dann mit wachsender Neugierde erspäht, Klänge auf ihn ein, die ihren Ursprung nicht so leicht preisgeben wollen. Leise Stimmen, entferntes Rauschen, einzelne Töne locken die Spirale hinauf. Die Schritte versuchen das Knarren der Holzstufen sorgfältig zu vermeiden, obgleich es sich auch wieder in das Geschehen einzufügen scheint.
Dieses Akustische Wegeleitsystem von Franz Martin Olbrisch ist Lockmittel und Klanggedächtnis zugleich. Wenn es ersteinmal fertig installiert ist, wird sein Computer Klänge aus der Hörgalerie aufzeichnen und gesteuert von Bewegungsmeldern nicht nur in das Treppenhaus, sondern auch zum Gehsteig vor der Parochialkirche und in den U-Bahnhof Klosterstraße übertragen. Dabei werden immer wieder neue Klänge aufgezeichnet, ohne daß die alten jemals ganz gelöscht würden. So sollen auch noch in zwei Jahren, wenn den rührigen Veranstaltern bis dahin hoffentlich nicht das Geld ausgegangen ist, die Geräusche und Gespräche der ersten Besucher zu hören sein.
Am Ende der Wendeltreppe findet sich endlich ein gemauertes Gewölbe, das noch bis zum 17. Juni die Klangkästen von Erwin Stache beherbergt. 27 kleine schwarze Holzkästchen behüten - wie der Name vermuten läßt - Klänge, die darauf warten, entdeckt zu werden. Öffnet man die Kästchen, geben sie ihren Inhalt frei: zartes Pfeifen oder aggressives Knattern, das sich beschleunigt, je weiter man den Deckel aufklappt, Eisenbahngeräusche oder Husten. "Das ist doch nicht zu fassen!" sagt ein Kasten, ein anderer nimmt es auf und spielt es beim nächsten Öffnen wieder. Bei der Vernissage führte Erwin Stache sein Konzert für Klangkästen und Geräuschphänomene auf, das Klangereignisse schön verband, sie aber auch mit allzu vordergründigem Humor in Beziehung setzte (kaum erwähnte ein Kasten Virilios Ästhetik des Verschwindens klappte Stache ihn zu und ließ einen anderen sich räuspern). Nun sind die Besucher aufgefordert, ihr eigenes Konzert zu spielen. Die vielbeschworene interaktive Installation kommt hier in sympathischer low-tech-Manier daher und etabliert unverkrampft eine soziale Situation, in der individuelle Entdeckerlust sich an der gemeinsamen Verantwortung für das akustische Ganze reibt.
Volker Straebel