Bach als Minimalist
Zu den Bach-Zyklen von Linda Schwarz



A rose is a rose is a rose is a rose
Gertrude Stein

Ob die Musik in den Noten liege oder im klanglichen Ereignis, ist eine in der Geschichte der musikästhetischen Diskussion unterschiedlich beantwortete Frage. Während der Laie Musik einzig als klingende erfährt und deshalb das Hörbare für das ihr Wesentliche halten wird, haben Theoretiker und Komponisten immer wieder ihr Schriftliches in den Vordergrund gestellt.

In der abendländischen Musiktradition dienten Notationen zunächst nur als Erinnerungsstütze der Überlieferung. Erst mit der Entwicklung von Mehrstimmigkeit und komplizierteren Satzweisen, sowie der zunehmenden Bedeutung der personalen Autorenschaft der Komponisten wurde sie der Kunstmusik notwendig. So erschließt sich etwa in den hochkomplexen Motetten der ars nova des 14. Jahrhunderts nur ein kleiner Teil der Komposition durch das Hören allein. Die kunstvolle Satztechnik und die unterschiedlichen gleichzeitig erklingenden Texte sind nur lesend zu entschlüsseln, in gewisser Weise wohl nur für den Leser bestimmt.

Ihr Extrem hat diese Vorstellung in der Position, daß das Klingen der Musik entbehrlich, ja unmöglich sei. "Wenn ich vom Hören höre!" läßt Thomas Mann seinen Romanhelden, den Komponisten Adrian Leverkühn im Doktor Faustus sagen, "Nach meiner Meinung genügt es völlig, wenn etwas einmal gehört worden ist, nämlich, als der Komponist es erdachte. [...] Als ob die Leute je hörten, was da gehört worden ist. [...]"(1)

Wenn auch, wie es Adorno formulierte, "nie und an keiner Stelle [...] der musikalische Notentext mit dem Werk identisch [ist]"(2), so ist er doch diesem, oder zumindest dessen klanglicher Gestalt, ähnlich. Schließlich haben die Zeichen, die einen Ton in seiner Höhe und Dauer beschreiben, nur dann rein symbolischen Charakter, wenn sie isoliert für sich stehen. Betrachtet man hingegen einen Tonhöhenverlauf, so sind die Notenzeichen auch Abbild desselben. Sie zeigen die Töne in ihrer Reihenfolge, ihrem Dauernverhältnis (dies oft weniger anschaulich) und in ihrer Tonhöhenbeziehung (höher oder tiefer als der vorhergehende Ton, Größe des Abstandes). Akzeptiert man die Analogie von "oben - unten" in der Schrift zum "hoch - tief" des Höreindruckes, bildet die Notation tatsächlich den Tonhöhenverlauf ab. Zu Begriffen wie Notenschrift und Notentext tritt so der des Notenbildes.

Die Noten-Bilder von Linda Schwarz haben ihre Verbindung zur Musik zunächst in diesem Moment. Dabei ist die Übernahme eines Notentextes in den Bildraum einer Radierung nicht bloßes Zitat. Anders als in den bekannten kubistischen Gemälden, in denen durch die Verwendung von (oftmals leeren) Notenlinien und Elementen eines Geigen- oder Gitarrenkorpus Assoziationen an Musik evoziert werden (etwa Georges Braque: Violon von 1912 oder Pablo Picasso: Femme à la guitare près d'un piano von 1911)(3), wird hier ein vollständiger Text Gegenstand des Bildes. Und zu dessen sichtbaren Zeichenkörper tritt stets das von ihm Bezeichnete. Der Verweisungszusammenhang ist in den Arbeiten von Linda Schwarz also komplexer als bei den erwähnten kubistischen: Zu der linearen Bewegung "Notenlinien erinnern an Musik" oder "F-Löcher verweisen auf Streichinstrumente, diese auf Musik" tritt hier eine zirkuläre: Der Notentext verweist nicht nur auf "die Musik", sondern zunächst auf eine Komposition, die er in gewisser Weise selbst ist.

Schwarz - Notenbilder Der Notentext ist aber auch das, was er nicht an sich selbst ist: Zeichen für Klingendes und Aufführungsvorschrift. Ihre Funktion als letztere verlieren jedoch die Noten dieser Radierungen. Linda Schwarz setzte nicht ein gedrucktes Notenblatt in den Bildraum (wie etwa Pablo Picasso in seiner Papier-Collage Violon et feuille de musique von 1912), sondern sie schrieb die Notenzeichen ab, verzichtete dabei auf Titel, Tempo- und Besetzungsangabe, aber auch auf Notenschlüssel, Versetzungszeichen am Schlüssel und Angabe der Taktart. Die Notation ist damit unvollständig, ohne Fragment zu sein (sind doch alle Noten eines vollständigen Satzes genau wiedergegeben), sie ist auf die oben beschriebene Abbildhaftigkeit reduziert - oder zu ihr befreit. Und zugleich verweist sie auf den Notentext als Ganzen, der aus seiner Doppeltheit, Komposition und Spielanweisung zu sein, nun gelöst ist.

Somit zeigt das Bild des Textes diesen sowohl als bloßen Zeichenkörper, als Zeichen, die sich ihres Bezeichnens sicher sind, nicht aber ihres Bezeichneten (die Noten meinen Töne, aber deren Höhe bleibt ohne Notenschlüssel ungewiß), wie auch als Notation, die gerade ob ihrer Unvollständigkeit auf das am Notentext verweist, was nicht Aufführungsvorschrift ist, das musikalisch Gemeinte.

Zeitlichkeit ist der Musik wesentlich. Zwar entfalten sich auch die Werke der Bildenden Kunst dem Betrachter in der Zeit, doch vollzieht sich dieses eher am Rezipienten, denn am Werk. Eine musikalische Komposition hingegen prägt dem Hörer die ihr eigene Zeit auf, einem Film ähnlich, dessen Projektionsgeschwindigkeit ebenso wie die Reihenfolge der Einstellungen vom Kinobesucher nicht beeinflußt werden kann. Demgegenüber läßt ein Bild dem Betrachter mehr Freiheiten: die Reihenfolge, in der einzelne Bildelemente betrachtet werden, ist dem Rezipienten nicht vorzuschreiben, höchstens nahezulegen. Ebenso die Zeit, die er seinen Blick auf einzelnen Bereichen verweilen läßt und die er dem Bild insgesamt widmet.

Das Betrachten eines Bildes ließe sich also mit dem Lesen eines Textes vergleichen, bei dem man ja einzelne Sätze wiederholt lesen oder Abschnitte überspringen kann. Ebenso können beim Lesen eines Notentextes einzelne Stellen wiederholt betrachtet werden, man kann zurückblättern, um Themen zu vergleichen, und Wiederholungen auslassen. Diese Nähe von Musik als Notation und Bild wird dann besonders deutlich, wenn der Bildraum dergestalt waagerecht gegliedert ist, daß der Betrachter Zeilen zu erkennen meint, denen er "lesend" folgt. Viele Werke Paul Klees erzielen auf diese Weise ihre musikalische Wirkung (etwa Reife Ernte und Pirla von 1924 (172/179), Felsenbild und Kult-Stätte von 1934 (138 QU18 / 141 R1))(4).

Die Organisation des Bildraumes in Zeilen ist in den Noten-Bildern von Linda Schwarz mit den Notensystemen natürlich überdeutlich gegeben. Doch dieser Deutlichkeit im Großen steht eine Unsicherheit im Detail gegenüber, die Zeitlichkeit erneut thematisiert: Da sich die Notenzeichen nur zart, manchmal geradezu zögerlich vom Bildgrund abheben, bedarf es einer besonderen Anstrengung der Sinne, sie zu lesen. Wie ein Kind, das sich einen Text langsam er-liest, erfährt man die Zeit, die dieses Schauen fordert, besonders deutlich. Und einmal ungeduldig geworden, mag die Sehweise des Betrachters immer wieder hin- und herspringen zwischen dem Anschauen des Textes als Bild und dem Lesen des Bildes als Text.

Schließlich wird Zeitlichkeit in der Anordnung der Noten-Bilder in Zyklen offenbar: Auf dem ersten Blatt eines jeden der acht Zyklen ist der Notentext des Prélude der ersten Cello-Suite in G-Dur von Johann Sebastian Bach (BWV 1007) vollständig wiedergegeben. Das zweite Blatt zeigt zwei sich überlagernde Abläufe des Stückes, auf dem dritten finden sich drei, auf dem vierten endlich vier Abläufe. Die vier Blätter eines Zyklus sind nicht auf einmal zu übersehen, sie müssen nacheinander betrachtet werden, sie sind von links nach rechts zu lesen, wie die Notenzeilen auf den einzelnen Radierungen. Und in der Ausstellung gibt es eine weitere Wiederholung, die der Großform: Acht Zyklen gilt es abzuschreiten, die jeweils dem gleichen Reihungsprinzip folgen.

Wiederholungen spielen in diesen Arbeiten von Linda Schwarz also eine besondere Rolle. Das zweite Blatt eines Zyklus wiederholt das Bild des ersten Blattes und bildet dieses nochmals ab; als wäre der erste Bildeindruck der Netzhaut eingeschrieben und überlagere sich nun mit seiner Wiederholung. Die erinnerten Eindrücke sedimentieren, bis sie im vierten Blatt eine neue Qualität erreichen, die über die wiederholte Wiederholung hinausweist. So wird deutlich, was die eingangs zitierte Gertrude Stein meinte, wenn sie erklärte, es gäbe keine Wiederholung, nur Beharren(5): Nicht nur, daß ein Vorgang in seiner Wiederholung nie genau derselbe sein könne, oder daß in einem Film zwei Bilder einander nie genau glichen, sondern vor allem daß dem Betrachter ein wiederholter Eindruck eben ein wiederholter ist und damit anders - als wiederholter - aufgenommen wird, also mehr ist als ein "das gleiche nocheinmal."

Bei sehr langem Beharren auf einem Text kann dieser schließlich als bekannt gelten. Bekanntes zu lesen unterscheidet sich aber deutlich vom Lesen von Unbekanntem, worauf Wittgenstein aufmerksam machte: "Mach diesen Versuch: sag die Zahlenreihe von 1 bis 12. Nun schau auf das Zifferblatt einer Uhr und lies diese Reihe. - Was hast du in diesem Falle "lesen" genannt? Das heißt: was hast du getan, um es zum Lesen zu machen?"(6)

Hört man Gertrude Steins Zeile "A rose is a rose is a rose is a rose" immer wieder gesprochen, verschiebt sich die Aufmerksamkeit langsam vom Gemeinten, der Rose, zum Meinenden, der Lautkette [rouz]. Das wiederholte Ding wird von der ihm anhaftenden Bedeutung befreit. Ebenso führt die Betrachtung der Noten-Bilder vom Lesen zum Schauen, sofern man es nicht wieder bewußt "zum Lesen macht." Die oben beschriebene Befreiung der Notenzeichen aus dem Total ihrer Bedeutungen erreicht Linda Schwarz also auf unterschiedlichen Wegen.

Die Vertreter der minimal music erzielen mit ihren Kompositionen ähnliche Ergebnisse. Die langandauernde Wiederholung kurzer Floskeln ("Patterns") führt die Vorstellung einer finalorientierten Musik ad absurdum: Jeder Moment der Komposition hat das gleiche Gewicht, an die Stelle von Entwicklungen treten unvorbereitete feine Veränderungen der Floskeln. Das Beharren auf einfachen melodischen Elementen entlarvt diese in ihrer Bedeutungslosigkeit, sie sind nicht mehr, als sie an sich selbst sind.

Linda Schwarz beschäftigte sich mit zwei Vertretern dieses Komponierens näher: mit Philip Glass, dessen frühe Opern sie besonders interessierten, und mit Steve Reich. Zu dessen Komposition "Piano Phase" entstand 1990/91 ein Zyklus Radierungen. Dieser Hintergrund mag die Wahl des Prélude für Cello für diesen Bach-Zyklus zu erklären helfen.

So ist bereits der Beginn der Komposition durch Wiederholungen geprägt: Dem aufsteigenden G-Dur-Dreiklang folgt nach einer Wechselnote der höchste Dreiklangston h erneut, um dann zweimal zum Dreiklangston d zu pendeln. Danach werden diese acht Töne genau wiederholt. Es folgt eine "Sequenz" des ersten Taktes; bis auf das G, das als Orgelpunkt am Beginn eines jeden Modells erhalten bleibt, werden alle Töne um einen Ton nach oben verschoben. Der dritte Takt setzt diese Wiederholung fort, nur wird das e zum fis verschoben. Ähnlich sind die folgenden Takte miteinander verknüpft, allerdings immer wieder unterbrochen von modulierenden Überleitungen und Tonleiterabschnitten. Im zweiten Teil, nach der Fermate, finden sich weitere Wiederholungszusammenhänge: neben den sequenzierten Tonleiterabschnitten der Takte 29/30 die langen Orgelpunkte auf a (T 31-36), d (T 37/38) und g' (T 39-42). Dabei werden zum Teil auf engstem Raum Momente von Sequenz und Wiederholung kombiniert (z.B. in Takt 32 oder Takt 35/36).

Natürlich läßt sich dieses Prélude nicht wirklich als minimal music analysieren. Vor allem die große chromatische Steigerung zum Ende hin läßt sich mit deren Begriffen nicht fassen. Doch nach der Beschäftigung mit den Noten-Bildern von Linda Schwarz wird man es neu hören. Mehr im Hinblick auf die einander ähnlichen Modelle, deren Tonhöhenverlauf in einem der Zyklen jeweils zu einer Linie zusammengefaßt ist. Oder man wird mehr achten auf wiederholte Töne, auch wenn diese nicht unmittelbar aufeinander folgen, wie es in einer der Zyklen durch die diese Töne verbindenden Linien nahelegt. Vielleicht wird man aber auch ein Modell immer wieder lesen, um so durch Wiederholung zu einem Eindruck zu gelangen, den auch Steve Reich hätte komponieren können.

"Erinnern ist Wiederholung, erinnern ist auch Verwirrung." Gertrude Stein beschrieb die Schwierigkeit, "sozusagen zwei Zeiten auf einmal einhalten [zu müssen], die Wiederholungszeit von erinnern und die tatsächliche Zeit von sprechen"(7), b.z.w. schauen oder hören. Zu den bereits beschriebenen Verwirrungen, die Noten-Bilder von Linda Schwarz als Bild oder Text aufzunehmen, tritt bei einigen der letzten Blätter der Zyklen die Bewegung von der Linie zur Fläche. Während in den ersten Blättern durch die deutlich zu erkennenden Notensysteme eine Zeitorientierung gegeben ist, wird diese mit zunehmender Anzahl der Überlagerungen immer unsicherer. Der Fläche ist alles gleichzeitig. Trotzdem weiß der Erinnernde um die Strukturierung der Fläche durch Wiederholung und damit um ihre zeitliche Prägung.

Die Flächen der komplexen Noten-Bilder sind nur musikalisch erfahrbar. Dem Paradoxon, daß Bewegung zu Statik führen kann, wie dies etwa in einigen Kompositionen György Ligetis(8) geschieht, steht stets die Erinnerung an die zugrunde liegende komplizierte Linearität gegenüber. So sind diese Blätter auch nicht in einer Aufführung musikalisch umzusetzen. Die Verschiebungen im Bildraum, die Linda Schwarz hier vornimmt, haben im musikalischen Raum kein Analogon. Und trotzdem führen ihre Arbeiten vom musikalischen Text über das Bild wieder zur Musik: einer Musik, die sich allein im Rezipienten vollzieht, ein "aktives Hören im Innenraum"(9), das des Schalls nicht bedarf.

Volker Straebel 93


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leicht verändert unter dem Titel "Musik jenseits des Hörens. Zu den Noten-Bildern von Linda Schwarz" in: Musik-Psychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 11 (1994), S. 170-173
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission


Anmerkungen

(1) am Beginn von Kap. XXVII

(2) Theodor W. Adorno: Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1977, S. 138-151, hier S. 149

(3) Abb. in: Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Karin von Maur, München 1985, S. 103 f.

(4) Abb. in: Paul Klee und die Musik. Ausstellungskatalog, Frankfurt/M. 1986, S. 92 f., S. 114

(5) Getrude Stein: Porträts und Wiederholungen, in dies.: Was ist englische Literatur. Vorlesungen, übers. v. Marie-Anne Stiebel, Zürich 1965, S. 119-155, hier S. 121

(6) Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 161. Hervorhebungen im Original.

(7) G. Stein a.a.O. S. 130, S. 132

(8) Aus Linda Schwarz' Beschäftigung mit György Ligeti heraus entstand die Umschlaggestaltung zu dem Buch Harald Kaufmann: Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik hrsg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger, Hofheim / Ts. 1993.

(9) Linda Schwarz in einem Text zu ihren Noten-Bildern