Schrift, Zeichen und Erinnerung

Rede gehalten zur Finissage der Ausstellung
Sabine Schirdewahn und Linda Schwarz in der Guardini Stiftung, Berlin am 9.Januar 1998

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die Platon in seinem Dialog Phaidros dem Sokrates in den Mund gelegt hat. Sokrates berichtet dort [274c ff.]:

"Ich habe also gehört, zu Naukratis in Ägypten sei einer von den dortigen alten Göttern gewesen, [...] Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann Meßkunst und Sternenkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König von ganz Ägypten habe damals Thamus geherrscht [...]. Zu dem sei Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und begehrt, sie möchten den anderen Ägyptern mitgeteilt werden. Jener fragte, was doch eine jede für einen Nutzen gewähre, und je nachdem, was Theuth darüber vorbrachte, ihm richtig oder unrichtig dünkte, tadelte oder lobte. [...] Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für Erinnerung und Weisheit sind sie erfunden. Jener aber habe erwidert: O kunstreicher Theuth, einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen, ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast du jetzt, Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Nachlässigkeit der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nun von außen, vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast Du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst."

Platon fand sich im vierten vorchristlichen Jahrhundert mit dem Übergang von der erzählenden Überlieferung zur schriftlichen Traditionsbildung konfrontiert. Zwar verfertigte er selbst Schriften, von denen die Dialoge und einige Briefe uns überkommen sind, doch betrachtete er diese stets nur als Erinnerungshilfen für seine Schüler, die das mündliche Philosophieren in der Akademie keinesfalls ersetzen konnten. So läßt er Sokrates fortfahren:

"Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe."

In seiner Frühzeit wurde das Photographieren als ein Schreiben oder Malen mit Licht beschrieben. Wie kein anderes Medium dient es seit seiner weiten Verbreitung am Ende des vergangenen Jahrhunderts der Erinnerung, oder, um mit König Thamus zu sprechen, dem Erinnern. Das Photo erscheint als authentisches Abbild der sichtbaren Welt, die sich mittels Lichts und photochemischer Prozesse selbst fixiert. Louis Daguerre beschrieb dies 1838 in einer Anzeige folgendermaßen: "Die Daguerreotypie ist nicht nur ein Instrument, das dazu dient, die Natur nachzuzeichnen, [...] sie gibt dieser vielmehr die Macht, sich selbst zu reproduzieren."(1)

Daher dient das Photo als anerkanntes Beweismittel und gilt trotz der berühmt-berüchtigten Stalin-Retuschen und selbst in Zeiten digitaler Bildbearbeitung als sicheres Dokument für Nachrichten aus aller Welt. Photos bezeugen so vom Betrachter nicht selbst erlebte Ereignisse, sie künden von nie betretenen Ländern und längst vergangenen Zeiten. Im letzten Fall altert neben dem Abgebildeten auch die Abbildung selbst, das Photo vergilbt, wird fleckig, und der Sepia-Ton alter Abzüge zeugt von dem vor langer Zeit herrschenden Geschmack.

Schirdewahn - Stilleben London So wirken die hier gezeigten Arbeiten von Sabine Schirdewahn zunächst wie Fundstücke aus einer Sammlung alter Photographien. Ein Interieur der Jahrhundertwende, Kirchengestühl in verwackelten Aufnahmen, ein Stilleben mit einem Waschgeschirr - schon die Sujets von Schirdewahns Blättern verweisen in die Vergangenheit. Hinzu kommt die Verwendung von Barytpapier und der ungleichmäßige, mitunter malerische Auftrag der Chemikalien, die den Eindruck alter und am Material deutlich gealterter Abzüge erwecken.

Wären da nicht die großen Formate. Wären da nicht Wahl von Bildausschnitt und Perspektive, die in unser Jahrhundert verweisen. Risse nicht seine räumliche Umgebung das Abgebildete selbst aus seiner Zeit.

In einer Serie von vier großen Hochformaten hat Sabine Schirdewahn Innenräume von Sakralbauten abgebildet. Von recht hohem Standpunkt aus nimmt sie Kirchenbänke, einfache Hocker und schließlich unüberschaubare Reihen von altertümlichen Stühlen in den Blick. Die Bilder zeigen nur diese Sitzgelegenheiten, nicht den Raum, in dem sie stehen. Allein von ihrer Art schließen wir darauf, daß es sich um Kirchen handelt. Die Bilder sind verwackelt, die Grenzen der Stühle sind unsicher geworden, oder überlagern sich zu einer belebten Fläche. Man ahnt die Bildhauerin in Sabine Schirdewahn, die mit ihren photographischen Arbeiten besonders von dem redet, was diese verschweigen: vom Raum, der das Abgebildete umgibt. Ein unmögliches Verfahren, hätten die Blätter das Alter, das sie zu haben vorgeben.

In den drei Abzügen "Gedeckter Tisch" fällt der Blick über einen Eßtisch hinweg auf einen offenen Durchbruch hin zum angrenzenden Zimmer, von dem nur ein Ausschnitt der mit einem Kaminaufsatz an der Rückwand zu sehen ist. Hier schweigt die Lichtschrift besonders eindringlich, verweigert sie jede weitere Auskunft über diesen Raum. Der Photographin mag das Bild Erinnerung sein, uns gegenüber bleibt es in dieser Hinsicht stumm.

Bald bemerken wir allerdings, daß hier auch das Abgebildete selbst dem Erinnern dient. Der gedeckte Eßtisch wird von einem Glasquader überwölbt, der das Geschirr in seiner musealen Präsentation schützt, und eine Kordel hält Besucher davon ab, sich dem Tisch zu nähern. Diese Wohnmöbel werden nicht mehr benutzt, sie werden ausgestellt. Während Alltagsgegenstände gemeinhin durch ihren Gebrauch bestimmt sind, erscheinen sie, aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, als Dokument. Sie sind plötzlich nicht mehr sie selbst, sie sind aufgeladen mit Bedeutung, sind Zeichen für etwas.

Dies gilt ebenso für das heute alltägliche Artefakt der Photographie selbst. In ihren Arbeiten lenkt Sabine Schirdewahn die Aufmerksamkeit vom Abgebildeten auf die Abbildung und ihre Bedingtheit. Die Erinnerungsmaschine für das Familienalbum ist zerbrochen.

Der von Sokrates bemühte König Thamus sollte also Recht behalten. Die Schrift ist nur ein blasser und höchst unvollkommener Schatten menschlicher Rede und Erinnerung. Was aber, wenn man sich den Zeichen selbst zuwendet, sie ihrer Bedeutungen enthebt? Jean Tardieu äußerte sich einmal zu seinem, des Autors, Material:

Anmerkungen     up

"Der Sinn der Buchstaben, die ich hinschreibe, ist durch Millionen Hände gegangen, aber das, was jedem von uns allein gehört, ist die Art, in der wir das Zeichen hinsetzen, so, als hätten wir es gerade erfunden. Schreiben ist meine Selbstinterpretation. Dieses Spiel von reinen Linien und Schleifen, diese absoluten Figuren, diese 'Lettern', die seit so vielen Jahrhunderten von den Gegenständen gelöst sind, deren primitive Symbole sie waren, biegt und krümmt jeder von uns nach seiner Weise zurecht."(2)

Tardieu geht es hier weder um graphologische Spekulation, noch um kaligraphische Schriftkunst, sondern um die Abgrenzung jeweils individueller Niederschriften von einander. Dabei ist ein geschriebenes Wort sogar vom Schreiber selbst nicht genau zu reproduzieren, auch wenn die Rolle, die in unserem Kulturkreis der Unterschrift beigemessen wird, dies nahelegt.

Linda Schwarz hat sich in ihren Arbeiten in vielfältiger Weise mit der Schrift beschäftigt. Visueller Gegenstand ihres fünfzehnteiligen Graphikzyklus' "tatetotu" sind die Zeichen der vier titelgebenden Silben, die sie mit dem Griffel in nur wenige Millimeter hohen Zeilen auf die Druckplatten schrieb. Im Druck erscheinen so in sich strukturierte Linien, die eine quadratische Fläche ausfüllen - die aber Zeichen verschwinden. Um so mehr, wenn Linda Schwarz am Ende einer Dreiergruppe die vertikale und senkrechte Zeilenorientierung der vorhergehenden Blätter übereinanderlagert. So gerinnen die Buchstaben zur Fläche - die Silben birgt, die keiner zu lesen vermag.

Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.

Diese Zeilen Hölderlins mögen einem bei der Betrachtung der tatetotu-Radierungen durch den Kopf gehen. "Mnemosyne" sind sie überschrieben, der Göttin des Gedächtnisses und der Erinnerung also gewidmet, die Lethe gebar, damit, nach Hesiod, "spendend Vergessen der Übel und Atempause von Sorgen"(3).

So nahe liegen Erinnern und Vergessen beieinander. Die Buchstaben, erfunden um die Menschen gedächtnisreicher zu machen, befreit Linda Schwarz von Bedeutung, vergessend konzentriert sie sich ganz auf das "Spiel von reinen Linien und Schleifen". Allenfalls läßt sie den Verweis auf vier unterschiedlich gefärbte Explosivlaute zu, nicht aber redet sie mehr mit Wörtern von der Welt außerhalb ihrer Bilder.

Erinnern wir uns, daß Theuth neben den Buchstaben auch das Brett- und Würfelspiel erfand. Was also liegt näher, als beide zu verbinden? In ihrer Random-Serie ordnet Linda Schwarz flache, dreidimensionale Großbuchstaben nach bestimmten Zufallsprinzipien in strengen Rastersystemen an. Eckige Buchstaben wie K, V, X, Y stehen zusammen, ebenso runde wie O und Q oder B und die Ziffer 8. So entdecken wir die vertrauten Buchstaben als visuelle Entitäten neu, machen graphische Korrespondenzen aus und werden gefangen vom Spiel der zufälligen Kombination mit unserem Bedürfnis nach sinnstiftender Deutung. Zusätzlich erregt die Materialität dieser Bilder unsere Aufmerksamkeit, die selbst dem geschulten Kunstbetrachter Rätsel aufgibt.

Der Zyklus "Traumverschlossen - Felseneinsamkeit" schließlich montiert in komplizierter Xeroxtransfer-Technik Teile eines Trakl-Gedichtes, dessen erste Strophe Linda Schwarz von einem Stein auf dem St.-Peters Friedhof in Salzburg, von dem der Text handelt, als Abreibung übertrug. Hier wurde die Künstlerin wieder vom Meinen der Sprache eingeholt, doch hütet sie sich, das gesamte Gedicht leicht lesbar wiederzugeben. Statt dessen schließen einzelne Bruchstücke wie "Bäume blüh'n zur Nacht" oder "Todes bleiche Blumen", die aus den vielschichtigen Überlagerungen hervorscheinen, Assoziationsräume auf, die den Betrachter eher auf sich selbst zurückwerfen, als daß sie ein Stück Literatur vorführten.

So verstummt die Schrift weiter, je mehr sie redet. Wie in den Photos Sabine Schirdewahns stellt sie ihre Ausgeburten hin als lebend, doch "wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie ehrwürdig still." Der Betrachter erfährt im Umgang mit dieser Kunst seine eigene Unsicherheit, letztlich seine Emotion also als letzte Sicherheit. Es verwundert daher nicht, daß die Künstlerinnen der Einladung zu diesem Abend das folgende Celan-Gedicht [aus dem Nachlaß] voranstellten:

Schreib dich nicht
zwischen die Welten,

komm auf gegen
der Bedeutungen Vielfalt,

vertrau der Tränenspur
und lerne leben.

Volker Straebel

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© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) zit.n. Susan Sonntag: On Photography, New York 1977, S. 188

(2) Jean Tardieu: Mein imaginäres Museum, Frankfurt/M 1979, S. 11

(3) Hesiod: Theogonie 55