Filmmusik als Filminterpretation

Musik über Musik: Michael Nymans Filmmusiken für Peter Greenaway

Michael Nyman hatte ein Leben vor dem Film. Als der britische Komponist mit seiner Musik zu Peter Greenaways Film "The Draughtman's Contract" 1982 einem breiteren Publikum bekannt wurde, hatte er sich bereits als Musikwissenschaftler einen Namen gemacht. Mit seiner Studie "Experimental Music – Cage and beyond" leistete der Dreißigjährige 1974 eine Bestandsaufnahme der experimentellen Musik jenseits der seriellen Avantgarde und beschrieb unter anderem die Schlüsselwerke der amerikanischen "minimal music". Die Bezeichnung "minimal music" für die repetetiven Kompositionen von Steve Reich, La Monte Young, Philip Glass und Terrey Riley geht möglicherweise sogar auf Michael Nyman zurück, der sie 1968 in einer Musikkritik verwandte. Charakteristisch für diesen Mitte der 60er Jahre in den USA entwickelten Kompositionsstil ist die statische Wiederholung oder unmerklich langsame Variation kurzer Pattern. Steve Reich prägte hierfür den Begriff des "gradual process".

Etwa zu der Zeit der Publikation von Nymans "Experimental Music" öffneten sich die Protagonisten der "minimal music" weniger strengen Formverläufen, wohl auch beeinflusst vom Studium afrikanischer und asiatischer Traditioneller Musik. Nyman beobachtete diese Entwicklung aus unmittelbarer Nähe, wirkte er doch zeitweilig als Pianist in Steve Reichs Ensemble mit. Schließlich überkam er sein zwölfjähriges Schweigen also Komponist: "Als Student [...] schrieb ich im Stil von Hindemith und Schostakowitsch. Dann kam ich in Kontakt mit der Manchester Schule – [Peter] Maxwell Davis, [Harrison] Birtwistle und [Alexander] Goehr – und es war nicht nur ein absolutes Gebot, serielle Musik zu schreiben, sondern auch alle andere Musik, die nicht seriell war, als die Musik von Idioten zu betrachten. Man durfte noch nicht einmal Sympathie für Benjamin Britten zeigen! Alles war Darmstadt, dieser serielle Post-Webern Unsinn. Ich habe versucht, ein serielles Stück zu schreiben, aber ich gab es auf. Und ich schrieb nicht eine einzige Note von 1964 bis 1976, weil ich mich nicht damit abfinden konnte, serielle Musik zu schreiben."[1]

Einen Ausweg fand Michael Nyman 1976 mit dem Klavierstück "1-100" für den gleichnamigen Kurzfilm von Peter Greenaway. Der Maler und Filmemacher hatte Nyman gebeten, eine Musik zu schreiben, die dem Film, der aus einer Folge von Aufnahmen der Zahlen ein bis einhundert in verschiedenen Umgebungen besteht, einen Schnittrhythmus vorgibt. Nyman komponierte eine Folge von einhundert Akkorden, die aus dem höchsten Klavier-Register langsam zur tiefsten Lage herabsteigt, wobei die Grundtöne in Quintverhältnissen zueinander stehen und somit eine unendliche Kadenz bilden. Die Akkorde setzen ein, sobald die vorhergehenden verklungen sind, so dass sich eine stete Verlangsamung zum Ende hin ergibt ("decay music").

Damit war Nyman die Verbindung des prozessualen Formdenkens der "minimal music" mit seiner Vorliebe für die tonale Funktionsharmonik gelungen. Peter Greenaways Musikgeschmack kam dies entgegen, hatte er doch frühere Experimentalfilme mit Musik von Vivaldi ("Intervals" 1969, "H is for house" 1976) oder Rameau ("Windows" 1974) unterlegt. Für seinen Spielfilm "The Draughtman's Contract" gab er 1982 bei Michael Nyman eine an Henry Purcell orientierte Musik in Auftrag. Die für die zwölf Zeichnungen des Protagonisten entstandenen Nummern bedienen sich zwar in Harmonik und Melodiebildung barockisierenden Elementen, interpretieren aber das Formmodell des ostinato, der insistierenden Wiederholung, im Geiste der kleingliedrigen "minimal music". Die ungewöhnliche Instrumentation mit elektrisch verstärktem Kammerensemble, der "Michael Nyman Band" tut ein übriges, um den Eindruck des Historischen zu brechen.

Nymans Ensemble, das mit wechselnden Besetzungen aus Flöte, Saxophonen, Blechbläsern, Klavier, Streichquartett und E‑Bass seit 1977 in ganz Europa auf Tournee geht, entstand aus der "Compiello-Band". 1976 hatte Michael Nyman auf Einladung von Harrison Birtwistle, der damals die Musikalische Leitung des National Theatre inne hatte, für eine Produktion von Carlo Goldonis "Il Campiello" Arrangements von venezianischen Goldolierenliedern des 18. Jahrhunderts geschrieben. Bereits in der Instrumentation dieser von einer "Straßenkapelle" gespielten Bühnenmusik zeigt sich die Verbindung von historischen und modernen Elementen: Nyman kombinierte Rebec, Schalmei und Zugposaune mit Sopransaxophon, Banjo und Bass Drum.

In reinen Konzertstücken, etwa "In Re Don Giovanni" von 1977, entfaltete Michael Nyman bald eine postmoderne Lust am Spiel mit historischen Zitaten im Gewand zeitgenössischen Formdenkens. Ausgehend von den ersten sechzehn Takten der Registerarie aus Mozarts "Don Giovanni" bildete Nyman hier kurze, sich überlagernde Schleifen, die eine aus der Rockmusik vertraute Sog-Wirkung entfalten. Filmmusiken, die der Komponist als Suiten für die konzertante Darbietung bearbeitet hat, stehen dem an intellektuellem Witz nicht nach. So bezieht sich der Soundtrack für "Drowning by Numbers" von 1988 auf das Andante von Mozarts Symphonie Concertante in Es-Dur (KV 364) für Violine, Bratsche und Orchester – wie schon zuvor die 92 Variationen für die Zwischentitel von Greenaways "The Falls" (1979). Diese Variationen wandelten mit konzeptioneller Strenge die Takte 58-61 der Mozart'schen Vorlage ab, in dem sie wechselnde Details hervorhoben, wiederholten, veränderten oder neue Verzierungen hinzufügten. In der Musik zu "Drowning by Numbers" geht Nyman einen Schritt weiter: Hier werden kurze Bruchstücke der Vorlage in Tempo, Rhythmus und Lage verändert, einzelne Phrasen in neuem melodischen oder harmonischen Zusammenhang präsentiert und schließlich ganze Abschnitte auf die unvermittelte Wiederholung knapper, im Original etliche Takte entfernte Motive komprimiert. Michael Nyman spricht von der "cut-up form", die, etwa in "Knowing the Ropes", aus diesem Verfahren resultiert, das man mit einigem Recht als "instrumentales Sampling" bezeichnen könnte. Andere Formen der Variation, wie die Verwendung des gleichen melodischen Materials in Oberstimme und Bass in unterschiedlichen Tempi, gehören wiederum zum Repertoire des klassischen Kontrapunkts.



Filmmusik als Filminterpretation: Michael Nymans Soundtrack zu Dziga Vertovs "Mann mit der Kamera"

Im Tonfilm wird die Filmmusik als wesentliches Element des intermedialen Phänomens "Film" in enger Abstimmung mit dem Regisseur erstellt. Der Produktionsprozess erlaubt die genaue Synchronisation von Bild und Musik, sodass Schnittrhythmen und Bewegungsmuster des Films sich minutiös in der Musik gespiegelt finden können. Im Stummfilm stellt sich die Situation anders da. Hier wurde und wird live während der Filmvorführung musiziert. Dass der Soundtrack nicht mechanisch mit dem Filmstreifen gekoppelt ist, führt zu unvermeidbaren Verschiebungen zwischen Ton und Bild. Außerdem werden Film und Musik in verschiedenen Medien überliefert, deren ursprünglich intendierte Verbindung nicht immer zweifelsfrei rekonstruiert werden kann. Stummfilmmusiken wurden für die Massenware der frühen Filmindustrie oft von Kinopianisten aus Musterbüchern, die musikalische Vorlagen nach inhaltlichen Motiven und illustrativen Bedürfnissen ordneten, ad hoc zusammengestellt. Mitunter erhielten Sie auch Treatments mit einzelnen Szenen zugeordneten Zitaten des klassischen oder Operetten-Repertoirs. In den Fällen, in denen zu einem Stummfilm eine Filmmusik komponiert wurde, mussten Komponist und Regisseur damit rechnen, dass die Partitur für Aufführungen in verschiedenen Lichtspielhäusern nach Maßgabe des zur Verfügung stehenden Ensembles in der Instrumentation drastisch verändert wurde.

Bei Dziga Vertovs "Mann mit der Kamera" (1926-28) war die Situation nicht anders. Welche Musik bei der Uraufführung in Kiew am 8. Januar 1929 gespielt wurde, ist nicht überliefert. Für die Moskauer Aufführung am 9. April richteten drei Musik-Arrangeure nach Vertovs Vorgaben vorhandene Musikstücke und Opernnummern für den Film ein. Doch bereits bei der Europa-Tournee des Films im Sommer des gleichen Jahres experimentierte Vertov mit neuen Lösungen für die Filmmusik. Die Aufführung in der Kulturfilmbühne des Anzeiger-Hochhauses in Hannover vertraute er Gerhard Gregor an, der sich einer Welte-Kino-Konzert-Orgel mit allerhand Sound-Effekten bediente. Für die Aufführung am 2. Juli in Berlin schuf der Komponist Werner Schmidt-Boelke eine neue Partitur für kleines Orchester. Und bei seiner zweiten Europa-Tournee verlangte Dziga Vertov schließlich für die Aufführung im Corso Filmtheater in Amsterdam im Dezember 1931 ausdrücklich nach Schlagzeug und Saxophon und vermittelte selbst dem Ensemble seine Vorstellungen von einer am Jazz orientieren Begleitmusik.

Als Michael Nyman 2002 für den Stummfilmklassiker "Der Mann mit der Kamera" eine neue Filmmusik komponierte, hatte er also mehr Freiheiten als bei der Arbeit für den Tonfilm, sah sich aber auch mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert: "Der Mann mit der Kamera" ist nicht narrativ. Es gibt keine Handlung; die Titel im Vorspann weisen ausdrücklich darauf hin:

Dem Zuschauer zur Beachtung: Dieser Film ist ein Experiment der filmischen Vermittlung sichtbarer Ereignisse.
Ohne Hilfe von Zwischentiteln (ein Film ohne Zwischentitel).
Ohne Hilfe eines Drehbuches (ein Film ohne Drehbuch).
Ohne Hilfe des Theaters (ein Film ohne Schauspieler, ohne Bühnenbild usw).
Diese experimentelle Arbeit versucht, eine internationale, absolute Kinosprache zu schaffen, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur.

Die Aufnahmen vom Alltagsleben in Kiew, Odessa und Moskau, von den Fabriken, den Straßen, den Vergnügungen der Freizeit etablieren dank der avancierten Montagetechnik musikalisch anmutende Bewegungsrhythmen, doch fehlen die für die Struktur von Filmmusiken typischen dramaturgischen Spannungsverläufe, Rückblenden, Introspektionen einzelner Figuren, und so fort. Daher orientiert sich Nymans Musik an der Großform des Films, etabliert jedoch im Detail einen zum Strom der Bilder unabhängig-parallel verlaufenden Fluss, der mitunter in der Montage angelegte Struktureigenschaften wie Verdichtung oder Beschleunigung mit seinem Ostinato sogar konterkariert.

Im Vorspann werden sechs Akte angekündigt. Diese gliedern sich wie folgt:

Motto (die ersten vier Einstellungen)
Einführung: Das Publikum (Einstellungen 5-67)
I: Erwachen (Einstellungen 68-207)
II: Beginn von Tag und Arbeit (Einstellungen 208-341)
III: Die Arbeit und die Stadt (Einstellung 342-955)
IV: Die Arbeit endet, die Freizeit beginnt (Einstellungen 956-1.399)
Coda: Das Publikum (Einstellungen 1.400-1.716)

Dziga Vertovs "Mann mit der Kamera" hat vor allem deswegen bis in die heutige Zeit so große Anerkennung erfahren, weil der Film, im Gegensatz zu ähnlichen Arbeiten wie etwa Walter Ruttmanns "Berlin. Sinfonie der Großstadt" (1927), sein eigenes Medium stets reflektiert - nicht nur, indem zu Beginn der Ort und das Publikum der Filmaufführung gezeigt werden, sondern vor allem indem der Kameramann mit dem Filmapparat, dem unbestechlichen "Kamera-Auge", immer wieder im Bild erscheint. Ähnlich dem Verfremdungs-Effekt des Brecht'schen Theaters wird so die Wirkungsästhetik durchbrochen und der Rezipient findet sich mit der Realität seiner Erfahrung konfrontiert: An die Stelle der identifizierenden Einfühlung tritt das Bewusstsein für die Perspektivität des Gesehenen.

Michael Nyman greift diesen Aspekt des Selbstreferenziellen auf, wenn er am Beginn des "Mannes mit der Kamera" den Vorspann mit Musik versieht, die ersten Einstellungen bis zur Totale im Innenraum des Filmtheaters aber mit einer Generalpause stumm lässt. Damit führt er den Stummfilm als Stummfilm vor und führt von vorn herein seine motorische Begleitmusik als zum Bild parallel verlaufende Ebene ein. Dass hier auf die musikalische Illustration des visuellen Geschehens verzichtet werden soll, wird spätestens dann klar, wenn zwischen dem spannungsvollen Warten auf den Einsatz der Musiker des Filmorchesters im Film und ihrem Spiel am Beginn der gefilmten Filmvorführung in Nymans Musik kein Unterschied liegt. Der Bruch vollzieht sich einzig in der intermodalen Wahrnehmung des Rezipienten: Nymans Musik klingt, obgleich unverändert, anders, nachdem das gefilmte Orchester eingesetzt hat. Die Trennung der beiden Wahrnehmungsebenen von Bild und Ton wirkt im Nachhinein wie ein medialer Vorhalt, ehe das Zusammen von gehörter und gesehener Musik Auge und Ohr wieder versöhnt.

In der Situation der Neukomposition einer Filmmusik für einen historischen Stummfilm wird die Musik unweigerlich zur Interpretation des Films, so sich nicht auf die illustrativen Verdoppelung der Inhalte beschränkt. Da Michael Nyman sie in "Der Mann mit der Kamera" konsequent vermeidet, erscheint sie dort, wo sie auftritt, eher als taschenspielerische Vorführung eines Verfahrens, denn als emotionale Intimidation des Rezipienten: etwa bei der Einführung einer zweiten Stimme genau an der Stelle, an der die Stadt (und der Mann mit der Kamera) sich in einer sich drehenden Fensterscheibe spiegelt, oder beim repetetiven Stillstand der Musik, nachdem Büroleben, Trauerzug, Hochzeit und Geburt mit der gleichen Cantilene verbunden worden waren.

Häufiger sind die Gegensätze von Bild und Musik, die auf ihre unabhängige Montage verweisen. So sind die Wechsel zwischen den in drei Grundtempi gehaltenen Musiknummern zumeist nicht durch filmische Brüche motiviert und offensichtliche Besonderheiten im Film, wie das Einfrieren von Bewegungen zu Stills, die Verwendung von Split-Screen Effekten oder die berühmte Stelle etwa in der Mitte des Films mit der entfesselten, vom Stativ gelösten Kamera, finden in der Musik keine Entsprechung. Während der Film nur selten in visuellen Leitmotiven auf bereits Gesehenes zurückgreift (man denke etwa an die Kindergesichter als Close-Up bei der Montage am Schneidetisch und später als dokumentatorische Beobachtung bei den Szenen am Strand und bei dem chinesischen Gaukler), folgt die Filmmusik einer Rondo-Form, in der ganze Nummern in geringer Variation wiederholt werden.

So liegt die wesentliche Interpretation, die Nymans Filmmusik leistet, in der Strukturierung des Gesehenen in zwanzig Abschnitten, die Zusammenhänge stiften respektive Differenzen konstituieren. Dem sich in entwickelnder Variation bewegenden Strom der Bilder setzt Michael Nyman Zeit konturierende Blöcke entgegen. Der Verlauf der statisch repetetiven Musik behauptet inhaltliche Beziehungen und distanziert vom vermeintlichen Realismus: Wo ein stummes Orchester tönt und Feuerwehrglocken stumm bleiben, wird das Artifizielle der medialen Repräsentation augenscheinlich. Nyman entdeckt Vertovs Dokumentation als Kunst.

Volker Straebel

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leicht verändert unter dem Titel "Musik über Musik" in: Programmheft Philharmonie Luxembourg, 15. Okt. 2007
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkung

(1) Interview Michael Nymen in K. Robert Schwarz: Minimalists, London 1996, S. 195f.


Literatur

Keikutt, Ildikó: "Auf den Spuren Henry Purcells: Michael Nymans Musik zu Peter Greenaways Film 'The Draughtsman's contract'", in "Alte" Musik und "neue" Medien, hrsg.v. Jürgen Arndt und Werner Keil [=Diskordanzen 14]. Hildesheim: Olms, 2003: 104-16

Meyer, Thomas: "'Why did Mozart use your music?' Nyman, Adams, Torke, die Postmoderne und gelegentliche Schwierigkeiten.", in: Positionen Nr. 24 (1995): 22-25

Petric, Vlada: Constructivism in Film. "The Man with the Movie Camera" - A Cinematic Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, 1987

Tode, Thomas und Barbara Worm (Hg.): Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österrreichischen Filmmuseum [= FilmmuseumSynemaPublikationen 4]. Wien: Österreichisches Filmmuseum, 2006

Vertov, Dziga: Schriften zum Film. Hrsg.v. Wolfgang Beilenhoff. München: Hanser, 1973