Im Dschungel der Neuen Musik

Zur Situation der Ensembles und Veranstalter zeitgenössischer Musik in Berlin

"Ausverkauft" prangt gelegentlich stolz auf Konzertplakaten, die von hochkarätig besetzten oder besonders populären Musikereignissen des klassisch-romantischen Repertoires künden. "Fällt aus" stünde auf manchem Anschlag von Programmen zeitgenössischer Musik, hätten die Veranstalter je genügend Geld gehabt, Plakate drucken zu lassen. Der Umschwung des kulturpolitischen Klimas macht auch vor der Neuen Musik nicht halt, und während sich in Berlin seit den 80er Jahren dank geschickter staatlicher Förderung ein reges Konzertleben entwickelt hat, ist heute, da die Mittel knapper werden, manches Ensemble von der Auflösung und manche Veranstaltungsreihe von der Einstellung bedroht.

Eine Bestandaufnahme: Für November verzeichnete der Kalender der Initiative Neue Musik nicht weniger als 57 Veranstaltungen Neuer Musik in Berlin, eine in Deutschland wahrscheinlich einzigartige Fülle, in der sich die Lebendigkeit der Szene als Berührungspunkt von West- und Osteuropa, Nordamerika und Asien, Komposition wie Improvisation, Musik, Neuen Medien und anderen Kunstformen beweist. Aufführungen des klassischen Kanons Neuer Musik von der Zweiten Wiener Schule bis zur Seriellen Musik fehlen ebensowenig wie die Oper unseres Jahrhunderts und experimentelle neueste Musik. Die Veranstaltungsübersicht der New Yorker Village Voice ist durchaus nicht üppiger, wenn auch Berlin noch immer nicht zu den eigentlichen Brutstätten neuer Ideen und Trends gehört.

Die Neue Musik ist in Berlin nicht eine Sache der großen Institutionen, wenn auch die Deutsche Oper sich immer wieder um neues Musiktheater bemüht (man erinnere sich der hervorragenden Neuenfels-Inszenierung von Zimmermanns Soldaten Mitte der 80er vor praktisch leerem Haus), der SFB in seiner Konzertreihe Musik der Gegenwart das DSO ins Rennen schickt, das Konzerthaus interessante Zyklen präsentiert und seit Abbado selbst die Berliner Philharmoniker gelegentlich in unser Jahrhundert vordringen, trotz eines bornierten Abonnentenpublikums, das etwa in Varèses Amériques (von 1922!) mit den Handtaschen klappert und noch während der Musik in die Pause eilt. Das Wesentliche wird von Spezialensembles geleistet, von denen der Deutsche Musikrat in seinem Musikalmanach elf aufführt mit zusammen 125 Musikern, Philharmonikerstärke also. Neben den von Dieter Schnebel begründeten Maulwerkern und dem derzeit wenig präsenten work in progress unter der Leitung von Gerhardt Müller-Goldboom haben in den letzten Jahren vor allem das Kammerensemble Neue Musik Berlin und UnitedBerlin auch überregional Bedeutung erlangt.

Letztere mögen exemplarisch für die gegenwärtige Situation der Szene stehen: Beide wurden in der Endzeit der DDR gegründet, das Kammerensemble 1987 von Studenten der Musikhochschule Hans Eisler, United im Herbst 1989 von freischaffenden Musikern aus dem Ostteil Berlins. Acht respektive zwölf Instrumentalisten, die nach Bedarf verstärkt werden, bestreiten 20 bis 30 Konzerte im Jahr - viel zu wenig, um davon zu leben, recht viel, um parallel eine volle Lehr- oder Orchesterstelle zu bekleiden. Schließlich gibt man praktisch kein Repertoire, sondern viele Uraufführungen von zumeist Berliner Komponisten oder erarbeitet mühevoll die horrend schweren Partituren der vergangenen 50 Jahre. Oft führt eine Produktion, also die Einstudierung eines neuen Programmes, nur zu einem Konzert und die ohnehin mageren Honorare stehen in keinem Verhältnis mehr zur geleisteten Probenarbeit. Völlig unverhältnismäßig auch die durch den Kartenverkauf erzielten Einnahmen zu den entstehenden Kosten. UnitedBerlin erreicht mit seiner nun ins vierte Jahr gehenden Konzertreihe zoom - Berliner Musik im Brennpunkt im Kleinen Saal des Konzerthauses 70 bis 90 Hörer, die etwa 1000,- bis 1200,- DM an der Kasse lassen. Noch nicht einmal die Saalmiete, von den Gesamtkosten von mindestens 20.000 DM ganz zu schweigen.

Musik ist immer ein teures Vergnügen gewesen und war stets auf Gönner angewiesen. Diese Rolle zu übernehmen hat hierzulande das Gemeinwesen sich zur Pflicht gemacht, um die Entwicklung der Kunst vor der übermächtigen Einflußnahme Einzelner zu bewahren. Der Berliner Senat förderte die Neue Musik im vergangenen Jahr mit 904.000 DM (1995: gut 1 Mio. DM), wobei UnitedBerlin seit 1995 in den Genuß der damals eingerichteten optionalen Förderung eines Kammerensembles für Neue Musik kommt. Dies bedeutet Planungssicherheit für ein Jahr mit einem Budget von 95.000 DM und der Option zur Weiterförderung für insgesamt bis zu drei Jahren. Neben kleineren Projekten (zusammen 52.000 DM) finanziert der Senat außerdem mit 165.000 DM die Konzertreihe Unerhörte Musik, die seit 1989 jeden Dienstag Kammermusik des 20. Jahrhunderts im BKA vorstellt, die Berliner Kompositionsaufträge und -stipendien im jährlichen Wechsel (145.000 DM), sowie die Vergabemittel der Initiative für Neue Musik (INM) in Höhe von 447.000 DM. Damit gibt der Senat sinnvollerweise die Entscheidungsgewalt über das Gros seiner Mittel in die Hände eines Interessenverbandes, der sich das Ziel der Förderung von "Entstehung und Verbreitung Neuer E-Musik im Raum Berlin" in seine Satzung geschrieben hat. 1991 als Vereinigung von Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern und Freunden der Neuen Musik sowie deren Verbänden gegründet, vergibt die INM seit 1993 Senatsmittel an freie Gruppen. Dazu wählt sie eine unabhängige ehrenamtliche Jury, die rund ein Fünftel der eingereichten Anträge zur Förderung annimmt.

Wie kommt es nun aber, daß der Veranstaltungskalender Neue Musik in Berlin für die ersten zwei Monate 1997 nur etwa halb so viele Konzerte ausweist wie in der Ausgabe zuvor? Hält die zeitgenössische Musik Winterschlaf? Sie tut es, und einen vielleicht sogar tödlichen. Die von der Finanzsenatorin verkündete Haushaltssperre trifft im Bereich der Kultur die sogenannten Projektfördermittel, die nun bis zur dritten Lesung des Haushalts Ende Februar eingefroren werden. Ein Beispiel: UnitedBerlin projektierte für die Saison 1996/97 die Reihe zoom auf fünf Konzerte. Drei davon sind für 1997 vorgesehen - ein Risiko, das das Ensemble im Vertrauen auf die Verlängerung seiner optionalen Förderung einging. Nur ist bis heute keine Entscheidung über diese Verlängerung gefallen. In der Not wandte man sich an die INM, die kurzfristig die Mittel für das Konzert am 21. Februar im Konzerthaus (Nono, Spahlinger, Jakob Ullmanns Wendekomposition palimpsest) bereitstellte. Dieser Tage erfährt das Ensemble, daß die von der INM vergebenen Gelder auch als Projektfördermittel firmieren. Und für Konzerte, die zeitlich vor dem Haushaltsbeschluß liegen, werden die Zuschüsse nicht rückwirkend ausgezahlt. Dirigent, Solistin und Chor sind aber bereits verpflichtet, der Saal wurde schon gebucht, für die Veranstaltung geworben. "Absagen bringt auch nichts", sagt der erste Geiger und organisatorische Leiter des Ensembles, Andreas Bräutigam, in einer Mischung aus Trotz und Resignation und verhandelt über die Minderung der Saalmiete. Die macht aber ohnehin nur 5% der Gesamtkosten aus. Sollen die Musiker vielleicht ohne Honorar auftreten? Ein denkbar falsches Signal, nachdem im Kulturbetrieb schon viel zu lange für immer weniger Geld gearbeitet wurde und die Künstler naiv genug waren, ihrer Profession zuliebe den Eindruck zu erwecken, man könne ohne Qualitätsverlust die Budgets beliebig zusammenstreichen.

Langfristige Planungen sind gegenwärtig kaum mehr möglich. Auf den von einem Veranstalter in die Verträge aufgenommenen Passus "vorbehaltlich gelungener Finanzierung" reagierten manche Musiker mit dem Nachsatz "vorbehaltlich, daß ich kein besseres Engagement bekomme." Verständlich für beide Seiten. Weitgestreute Mischfinanzierung scheint der Ausweg aus der Misere zu heißen, der auch die Konzertreihe Zeitklänge vor dem Aus bewahrt hätte. Mit 220.000 DM für acht bis zehn Konzerte im Jahr hatte Achim Hartig seit 1991 Ensembles zeitgenössischer Musik aus ganz Europa ins Konzerthaus eingeladen, und mit thematisch gut durchdachten Programmen frischen Wind in die Berliner Szene gebracht. Drei Jahre lang war die Stiftung Kulturfonds als Hauptförderer aufgetreten, so daß deren Entscheidung, im ersten Halbjahr 1997 im Bereich der Neuen Musik in Berlin ausschließlich die Musik-Bienale zu unterstützen (100.000 DM), die Veranstalter völlig unerwartet traf. Dabei lassen die Richtlinien der Stiftung, deren Vermögen die letzte DDR-Regierung bereitstellte, durchaus keine kontinuierliche Förderung erwarten. Gefragt sind "Projekte mit hohem künstlerischen Rang, die Modellcharakter haben (...) und länderübergreifend sind", also auf alle neuen Bundesländer ausstrahlen. Die "Zeitklänge" sind nicht die erste Veranstaltungsreihe, der die Stiftung auf die Beine verhalf, um dann Anderem, Neuerem Unterstützung zu gewähren, zumal sie selbst nicht auf Rosen gebettet ist, die Zinseinnahmen stagnieren und das Land Sachsen, das fast ein Drittel des Stiftungskapitals hält, zu 1998 seinen Austritt erklärt hat.

Deutliches Zeichen für das nötige Umdenken der Veranstalter in Zeiten fehlender kulturpolitischer Kontinuität ist die enge Zusammenarbeit des Kammerensembles Neue Musik Berlin mit einer professionellen Sponsoring-Agentur. Als "ensemble in residence" des Podewils sind ihm Probenräume und zwei Konzertreihen sicher. Doch Großprojekte wie die Opernproduktion hundred objects to represent the world von Peter Greeneway und Helmut Oehring, mit der man ab August nach Salzburg, Hamburg, Hannover und Paris auf Tournee gehen wird, sind nötig, um Rücklagen für unsichere Unternehmungen zu schaffen. Und dennoch: "Idealismus gehört dazu" nimmt Thomas Bruns klaglos hin, um dann ebenso selbstverständlich von Co-Produktionen, Event-Charakter der Veranstaltungen und Auslastungsquoten zu sprechen. Schließlich erklärt er sogar kühn die "Idee der öffentlichen Förderung zum Auslaufmodell" - gefragt hingegen sei das konsequente Kulturmanagement der Künstler selbst.

Die Entscheidung des Senats, 1995 die institutionelle Förderung aufzugeben, hat ohnehin dazu geführt, daß Musiker einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Energie organisatorischen Fragen widmen, während erfahrene Veranstalter ambitionierter Projekte, wie der Verein Freunde guter Musik, faktisch in den freien Markt entlassen wurden. Umgekehrt verfügt das Podewil über einen festen Stab für Programmgestaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Technik, kann aber sein Haus kaum noch ohne Sponsorengelder in hoher Qualität und Frequenz mit Kunst, Musik und Tanz bespielen. Merkwürdigerweise ruft niemand nach einem konsequent subventionierten professionellen Spezialensemble für Neue Musik nach dem Vorbild des Ensemble Modern in Frankfurt am Main. Die Szene, so hört man, möchte ihre Vielfalt wahren, wobei es auch um die Verteidigung eigener Besitzstände gehen mag.

Ein Vorschlag zur Güte: Da das Marketing zeitgenössischer Musik ob ihrer scheinbar unspektakulär verpuffenden Ereignishaftigkeit ein bekanntermaßen schwieriges Geschäft ist, sollte man dieses Fachleuten überlassen. Die INM oder eine andere, neu zu gründende Institution könnte - vom Senat personell entsprechend ausgestattet - das professionelle Management der verschiedenen Ensembles und Veranstalter inklusive Fundrising übernehmen. Ein auf die Bedürfnisse der Neuen Musik abgestimmter Technik-Pool würde das bereits vorhandene Angebot des Vivaldi-Saals als kostenlosem Probenraum ergänzen, Terminkoordination und Öffentlichkeitsarbeit gilt es ebenfalls zu bündeln. Die öffentliche Hand ist aufgefordert, den von ihr selbst betriebenen Umbau der Kulturförderung durch entsprechende begleitende Maßnahmen abzufedern, statt die Planungssicherheit weiter zu reduzieren und die Ensembles in finanzielle Bedrängnis zu bringen. Die von der INM geplante Musikmesse, die ihren Mitgliedern den bundesweiten Kontakt mit anderen Vermittlern zeitgenössischer Musik und potentiellen Sponsoren erleichtern soll, ist ein erster Schritt in diese Richtung.

Volker Straebel 1.97

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leicht verändert unter dem Titel "Ende der Tonzeit" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 29.Jan, 1997
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