Schwebungen

Niblock-Uraufführung und LaMonte Young im Podewil

"In den 60er Jahren fuhr ich mit einem Motorrad in den Bergen von Carolina hinter einem Lastwagen. Wir beide fuhren sehr schnell. Bald vibrierten die Motoren in einem beinahe harmonischem Verhältnis. Aber nicht genau. Die starke physische Gegenwart des Schwebungsrhythmus ließ mich fast in Trance fallen und von der Straße abkommen."

So beschreibt der amerikanische Komponist Phill Niblock sein Initiationserlebnis, das ihn zur Komposition mit lauten Schwebungsklängen brachte. Seither komponiert er weniger die instrumental hervorgebrachten Klänge seiner statischen, meist rund dreißigminütigen Stücke, sondern die aus deren mikrotonalen Schwingungsverhältnissen resultierenden Schwebungen. Dazu gibt Niblock seinen Musikern langsame Sinustonglissandi per Kopfhörer vor, denen diese dann auf ihren Instrumenten folgen. Ihr Spiel wird im Mehrspurverfahren aufgezeichnet und zu äußerst dichten Klangverläufen abgemischt. Diese Klangbänder entfalten eine ausgesprochen reiche, interne Strukturierung, wenn sie sehr laut abgespielt werden. Sie geben dann eine ganze Welt von Schwebungs- und Differenztönen frei, die ihrerseits von Lautstärkenvibrati moduliert und einem feinen Obertonflirren überwölbt werden.

Ten Auras für Tenorsaxophon mit elektronischer Tonhöhenveränderung und Samplinginstrumenten auf 4-Kanal-Tonband von 1994 eröffnete das Niblock-Set der Montagsmusik im Podewil. Der dem Berlin Publikum wohlbekannte Ulrich Krieger, mit dem Niblock seit Jahren zusammenarbeitet, ergänzte mit sensibel gesetzten Haltetönen das von ihm eingespielte Tonband. In traumwandlerischer Sicherheit wußte er sich in dem komplexen Klangfeld des Stückes zu bewegen und gezielt immer wieder neue Färbungen einzuführen. Er ging dabei, ebenso wie die Flötistin Kirsten Reese in PK and SLS für Flöte und Alt-Flöte auf 16-Kanal-Tonband (1981), im Zuschauerraum umher, den Klang gleichsam topographisch durchmessend. Der virtuelle Klangraum, den die Besucher von Niblocks Performances in seinem New Yorker Loft hin- und hergehend entdecken können, wurde so auch in der Konzertsituation andeutungsweise erfahrbar. Die Uraufführung des Abends jedoch, das Not yet titled piece for guitar (Phill Niblock liebt Wortspiele in seinen Werktiteln: noch nicht benanntes Stück für Gitarre) krankte leider an der Unausgewogenheit zwischen Live- und Tonbandpart der vier E-Gitarren. Eine bessere Klangregie hätte die beiden Anteile verschmelzen lassen, statt sie zu zwei offensichtlich nicht getrennt gedachten Klangbändern zu separieren.

Während Niblock simultan zu seinen Konzerten Videofilme von einfachen handwerklichen Tätigkeiten zeigt, begleiten die Aufführungen La Monte Youngs Lichtinstallationen von Marian Zazeela. Im Podewil kam Youngs The Melodic Version (1984) of The Second Dream of The High-Tension Line Stepdown Transformer from The Four Dreams of China (1962) erstmals in der Version für vier mittels E-bow gespielter E-Gitarren zur Aufführung. Das Stück verwendet nur vier Töne einer besonderen Stimmung, die im Rahmen komplizierter Satzregeln frei kombiniert werden. Daß das tatsächlich gespielte Material sich im Laufe von rund 70 Minuten langsam verdichtete, um am Ende wieder zur Folge von Einzeltönen zurückzukehren, ist für den Höreindruck von nur sekundärer Bedeutung. Der nicht wirklich virtuosen Aufführung des von Charles Curtis geleiteten Ensembles gelang es hingegen, im excellent beschallten Saal ein stets spannungsreiches Changieren zwischen der Polyphonie verschiedener Schwebungsrhythmen und einem diese in sich aufnehmenden Schmelzklang zu erreichen.

Volker Straebel 6.96

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leicht verändert unter dem Titel "Vom Vibrieren der Motoren" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 6.Juni 1996
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