Zwischen Klanginstallation und Komposition

"Dreiunddreißig Felder" von Christina Kubisch

Der Umgang mit dem Lautsprecher als visuellem oder skulpturalem Element gehört zu den Grundproblemen der Klanginstallation. Wo nicht mechanische Objekte Klang erzeugen, dient die Lautsprechermembran als Mittler zwischen der elektronischen Welt der Datenspeicher und der akustischen des Hörers. Versteckt man sie, erscheinen ihre Klänge unweigerlich als Illusion, ohne eigenen Ort frei im Raum, platziert man die Lautsprecher sichtbar in der Installation, werden sie unweigerlich optischer Bestandteil derselben. Christina Kubisch bewegte sich in ihrer dreiteiligen Arbeit "Dreiunddreißig Felder", die sie in Mai und Juni 2002 in der Singuhr Hörgalerie Berlin zeigte, an der Grenze zwischen beiden Positionen. Dabei verbarg sie nie die Lautsprecher als akustischen Ort der Klänge, sondern bandt sie so sinnfällig in die vorgefundene Architektur ein, dass sie ihre Funktion vergessen ließen.

Sie verschwanden bei den "Vier Tafeln" im barock wuchernden Rankenwerk der Grabmale und Gedenktafeln in der Vorhalle der Parochialkirche, um mit synthetischer Sprache deren Texte in vierkanaliger Überlagerung wiederzugeben. Was zunächst als bloße Verdopplung des Visuellen unbefriedigend erscheinen mag, entpuppt sich bald als sinnreiches Spiel um den Verlust von Materialität. Den Toten wie den Computer-Stimmen kommt kein stoffliches Sein mehr zu. Beider Ferne von der materialien, faßlichen Welt wohnt der Skandal der Unerreichbarkeit inne, und beider Zumutung ist durch die Gewohnheit der Alltagserfahrung gemildert. Die in Telefon- und Bahnhofsansagen allgegenwärtigen Computer-Stimmen bewegen sich von sich aus bereits an eben jener Grenze zwischen Realität und Künstlichkeit, die Christina Kubisch in ihren ortsspezifischen oder an historischen Motiven orientierten Installationen immer wieder thematisiert. Die Texte der "Vier Tafeln" werden mit einer Pause vom eineinhalbfachen ihrer Vortragsdauer zu repetierten Schleifen verbunden, so dass ein bis zu vierstimmiger Sprecherchor wechselnder Dichte und Textverständlichkeit entsteht.

Dieses Motiv der polyphonen Textüberlagerung findet sich auch im zweiten Raum von Kubischs dreiteiliger Installation, der Winterkirche, im Zwischengeschoss des Kirchturms. Als "Statthalter" hängen hier 26 weiße Flachlautsprecher an den Wänden, wo einst die Portraits aller Pfarrer der Parochialkirche zur Galerie sich reihten. Die von dieser verbliebenen Beschriftungsschildchen mit Namen und Lebensdaten wurden Kubisch zum Material eines ruhigen Chors, der im doppeltem Sinne von dem sagt, was nicht mehr ist. Von den verstorbenen Geitlichen künden nur noch ihre Namen, dass ihre Portraits im Kirchenraum hingen, zeigen die an ihrer statt montierten Lautsprecher. Die Membrane, in den "Vier Tafeln" geschickt verborgenes technisches Gerät, werden bei den "Statthaltern" zum Mittel visueller Gestaltung. Sie verbinden den optischen Eindruck der Gallerie mit dem akustischen des vielstimmigen Chores und markieren die Differenz zwischen visueller und akustischer Kunst: Was beiden gleichzeitig ist, kann nur in einer auch als Gleichzeitiges rezipiert werden, wohingegen das Auge von der Struktur des Sehens her die wahrnehmende Gliederung des Nacheinander notwendig selbst erzeugt.

Im Glockenraum der Parochialkirche hatte Kubisch schließlich den dritten Teil ihrer "Dreiunddreißig Felder" eingerichtet. Kleine Lautsprecher, von ihrem Gehäuse befreit und mit weißem Pigment überzogen, finden sich in drei rechteckigen, weit voneinander entfernten Bodenfeldern angeordnet. Einzig von wohltuend abgeschirmtem UV-Licht beleuchtet, entfalten sie eine geheimnisvolle Materialität, die in keinem Zusammenhang mit den von ihnen abgestrahlten, sich langsam im Raum bewegenden, an Glocken erinnernden Klängen steht. "Diapason", in der griechischen Musiktheorie einst Name für das vollkommene Intervall der Oktave, etabliert eine wunderbar leichte Spannung zwischen serieller Reihung, absichtsloser Klangfolge und historischer Konnotation.

Dabei spannt Christina Kubisch den Bogen von der Klangkünstlerin zur Komponistin, auch dies im Bereich der Klangkunst keine Selbstverständlichkeit. Im Elektronischen Studio der TU-Berlin nahm Kubisch die Klänge von 15 Stimmgabeln auf, und zwar C in sieben Oktav-Lagen, zwei Alterationen der tiefen C-Gabeln mit 72 Hz und 155 Hz, ein E mit 329,6 Hz, ein A mit 440 Hz und vier Stimmgabeln mit Frequenzen in angeblich kosmischen Schwingungsproportionen von 136 Hz, 172 Hz, 194 Hz und 210 Hz. Angeregt von der Anordnung der Stimmgabeln in einem mit Stoff ausgeschlagenen Kästchen, bediente sich Kubisch 21 I Ching Mustern, um die 15 verschiedenen Klänge zeitlich zu strukturieren. Dabei bedeutete eine unterbrochene Linie im Muster einen Ton, eine durchgezogene Linie eine Pause. Die Dauer von Ton und Pause war von der jeweiligen Stimmgabel abhängig und durch den Ausschwingvorgang von fünf bis 17 Sekunden bestimmt. Für jede der 15 Stimmgabeln wurden die 21 I Ching Muster in eine zufällige Reihenfolge gebracht und immer wieder abgearbeitet. Jede Stimme besteht also aus einer Folge von 21x6=126 Ereignissen, die Klänge oder Pausen jeweils gleicher Dauer sein können. Jede Stimme ist charakterisiert durch die Frequenz des Klanges und die Dauer der Ereignisse.

Die drei Lautsprecher-Felder zu 4x8, 4x10 und 4x8 Membrane, auf denen die 15-stimmige Komposition "Diapason" abgespielt wird, sind ihrerseits in verschachtelte Felder unterteilt, denen die beiden Stereo-Kanäle einer jeden Stimme zugeordnet sind. Manche Kanäle werden über acht Lautsprecher wiedergegeben, andere nur über zwei. Dadurch wird die wechselnde Präsenz, die die einzelnen Stimmen durch die Frequenz und Schwingungsdauer ihrer Stimmgabeln haben, im Raum weiter differenziert. Das einzelne Lautsprecher-Feld erscheint dem Ausstellungsbesucher visuell als klare serielle Anordnung, akustisch ist seine Aktivität jedoch sowohl zeitlich als auch in Bezug auf die Intensität und Ortung der Klänge unvorhersehbar. Die Dunkelheit des Ausstellungsraums und die ungewöhnliche Inszenierung der Lautsprecher mit Pigment und UV-Licht unterstreicht diesen Eindruck der Irritation.

In den "Dreiunddreißig Feldern" gelingt Christina Kubisch die Verbindung dreier Raum-Installationen zu einer schlüssigen Suite durch mehrere formale Klammern. Stets verweist ihr Klangmaterial auf die Geschichte und Vergangenheit der einzelnen Räume, der Umgang mit Lautsprechern als visuellem Element einer Klanginstallation wird in unterschiedlicher Zielrichtung erprobt und schließlich erfährt das musikalische Verfahren der polyphonen Überlagerung eine Variation in Dichte, Material und kompositorischem Ansatz. Inhalt, Verfahren und Wahrnehmungsoberfläche stützen sich gegenseitig.

Volker Straebel 07.03

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in: Positionen Nr.56 (August 2003) S. 47-48
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