"Chaos will organisiert sein"

Interview mit Mauricio Kagel anlässlich der Uraufführung seines "Schwarzen Madrigals"

Mauricio Kagel, geboren 1931 in Buenos Aires, kam nach Instrumental- und Theoriestudien 1957 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Deutschland und lebt seither in Köln. Hier wurde er bald zum Enfant terrible der Neuen Musik. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Seriellen Schule des Stockhausen-Kreises wandte er sich der Musikperformance und dem Instrumentalen Theater zu, Formen experimentellen Musiktheaters, die er entscheidend prägte. In verschiedensten Besetzungen, auch in Filmen und Radiostücken, hat Kagel mit typischem Humor immer wieder politisch Stellung bezogen. Am Sonntag [21.5.2000] bringt der Berliner Rundfunkchor im Konzerthaus Kagels "Schwarzes Madrigal" zur Uraufführung. Mit dem Komponisten sprach Volker Straebel.

Straebel: Mauricio Kagel, sie werden im Juni mit dem auf 250.000 DM dotierten Ernst von Siemens Musikpreis für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Stimmt es Sie nicht nachdenklich, jetzt derart in das Musik-System eingebunden zu sein, das Sie in frühen Jahren in Ihren Stücken kritisierten?

Kagel: "Eingebunden" bin ich eigentlich schon sehr früh gewesen. Nun glaube ich, wenn man als junger Mann nicht links steht, dann kann man im Alter sogar rechtsextrem werden. Alle wichtigen Komponisten der Musikgeschichte sind im Laufe ihres Lebens nie stehen geblieben. Ich verneine nicht, was ich früher geschrieben habe, aber ich habe mich auch ununterbrochen weiterentwickelt. Heute so zu komponieren, wie ich es vor vierzig Jahren gemacht habe, wäre anachronistisch, und zwar im doppelten Sinne. Erstens, weil die Musiksprache museal klingen würde, und zweitens, weil dies als fortdauerndes Relikt der Vergangenheit sogar die Authentizität des ursprünglichen Ansatzes verlieren dürfte.

Straebel: Andererseits zieht sich der reflektierte Umgang mit Tradition durch Ihr Werk.

Kagel: Tradition ist die Summe von Einzel-Traditionen. Wir subsumieren unter "Tradition" alles Mögliche, auch unseren Wunsch, dass sie so sein soll, wie wir es mögen. An jedem Ort gibt es bestimmte Traditionsstränge: wie man Musik aufführt, wie sie gelehrt wird, welches Repertoire gepflegt wird, und so fort. Natürlich interessiert mich auch die Musikgeschichte als gleitende Tradition, und ich bin dankbar, dass in der Vergangenheit Komponisten Probleme für mich gelöst haben, die ich nicht mehr anpacken muss.

Straebel: Und in Ihren Werken bringen Sie solche scheinbar disparaten Traditionen zusammen. Etwa mit der Verwendung außereuropäischer Instrumente oder der Integration von Tonalität in serielles Denken.

Kagel: Ja, aber das ist nie ideologisches Programm oder Resultat einer apodiktischen Ästhetik gewesen. Die Themenstellungen sind immer verschieden.

Straebel: Wie verhält es sich mit Ihrem neuen Chorstück, "Schwarzes Madrigal", das sie zum 75. Jubiläum des Berliner Rundfunkchores geschrieben haben?

Kagel: Ich wollte immer etwas schreiben mit Verwendung afrikanischer Sprachen. In den späten fünfziger Jahren war ich bei Werner Meyer-Eppler an der Bonner Universität eingeschrieben, um Kommunikationstheorie und Linguistik zu studieren. Ich war von den Klick-Lauten fasziniert, die afrikanische Studenten dort demonstrierten. Schon damals hatte ich vor, ein Chorstück mit diesem Material zu schreiben. Aber weder beherrschte ich eine der 650 Bantu-Sprachen und -Dialekte, noch konnte ich verlangen, dass Chorsänger diese Wörter richtig artikulieren. Deshalb habe ich mich für Ortsnamen von Städten, Dörfern und Ansiedlungen aus Afrika entschieden, weil diese Namen auch mit falscher Betonung ausgesprochen werden können. Das aber versteht und akzeptiert jeder. Denken Sie nur, wie Franzosen, Engländer und Deutsche "Paris" aussprechen - trotzdem weiß jeder, worum es geht. Deshalb kann es im "Schwarzen Madrigal" keine unrichtige Aussprache geben, denn jede Aussprache ist hier per definitionem "richtig". Ich konnte so diese wunderbar klingenden Worte unbelastet verwenden, ohne an eine Übersetzung des Sinnzusammenhanges zu denken. Ich wollte keinen aufbrausenden Exotismus feiern, lediglich schlichte Begeisterung für Worte, die uns sonst nicht geläufig sind.

Straebel: Also ein neuer Umgang mit Sprache, ganz anders etwa als die Sprachzertrümmerung in ihrem berühmten "Anagrama" von 1958.

Kagel: Ja, besonders für die Bildung von Sprachakkorden, denn es gibt im "Schwarzen Madrigal" kein Zitat afrikanischer Musik. Es ist trotzdem ein Werk entstanden, in dem solche Anklänge äußerst leise, wie gedämpfte Schallwellen durch Wände, hörbar werden. Als Kosmopolit begrüße ich die Durchlässigkeit musikalische Kulturen. Ich halte es für einen großen, unentbehrlichen Reichtum, geografische Unterschiede in der Musik zu haben. Das "Schwarze Madrigal" ist vielleicht ein Parforce-Ritt, aber bestimmt nicht der erste in meiner Arbeit.

Straebel: Handelt das Stück nicht weniger von afrikanischen Klängen als von der Geschichte des Exotismus in der Europäischen Musik? Sie setzen ja die Städtenamen zu einer sehr eindringlichen, mitunter elementaren Musik, und ich frage mich, ob dieses Einfache des Afrikanischen nicht eine europäische Unterstellung ist, vielleicht in der Tradition von Ernst Toch und Carl Orff.

Kagel: Es stimmt, dass ich eine emotionale Musik geschrieben habe, aber ich verstehe diesen Ansatz anders. Alles, was in diesem Stück geheimnisvoll klingt, folgt einer schwer zu beschreibenden Poetik. Meine Aufgabe ist es, dieses Mysterium weiter zu geben, es mit dem Zuhörer zu teilen.

Straebel: In den "Stücken der Windrose" (1988-94) zum Beispiel haben Sie ebenfalls das geografisch Fremde thematisiert.

Kagel: Richtig. Mir ist aber wichtig, dass dieses Madrigal sich nicht spekulativ, sondern konkret und ausdrucksklar entfaltet. Wenn das Stück emotional eindringlich klingt und Sie dies europäisch nennen, habe ich nichts dagegen.

Straebel: Sie zielen also bewusst auf emotionale Wirkung.

Kagel: Natürlich. Auf was soll ich denn zielen? Musik kann mann auf vielfältige Weise empfinden und deuten. Es gibt zum Beispiel kaum afrikanische Musik, die leise ist. Würde man die laute Musik leise spielen, dann könnte man vor Emotion fast sterben. Gerade hier, in einer Musik wie dem "Schwarzen Madrigal", die Sie elementar nennen, auch leise zu sein, ist sehr bewegend. Ich möchte kein Musikstück als Beweis einer theoretischen Formel schreiben, weil ich ein Komponist bin, der Theorie vielleicht als Beigabe liefert, nicht aber einer, der mit seiner Musik versucht, recht zu haben.

Straebel: Welche Entfernung ist größer, die geografische oder die zeitliche? Was liegt ferner? Beethoven oder Afrika?

Kagel: Je nachdem, manchmal Beethoven, manchmal Afrika. Ich verlange, dass meine Stücke eine hohe Kohärenz aufweisen. Das führte auch in der Vergangenheit zu Missverständnissen. Wenn man von meinen Jugendwerken spricht, insistiert man auf der anarchischen Dimension der Stücke. Aber auch meine Anarchie war sehr solide konstruiert. Chaos will organisiert werden.

Straebel: In Ihren frühen Stücken haben Sie die Musik selbst und das gesellschaftliche Umfeld ihrer Vermittlung thematisiert, heute konzentrieren Sie sich mehr auf bereits musikalisch geformtes Material. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Kagel: In den siebziger Jahren stand die Klangerzeugung im Mittelpunkt meiner Untersuchungen. Dafür habe ich auch eigene experimentelle Instrumente entwickelt. Aber diese Ästhetik sollte nicht zum Endziel meiner Kompositionsarbeit werden. Warum auch? Wenn man zu früh versteinert, bröckelt die Materie um so schneller. Ein Komponist soll im Laufe seines Lebens immer tiefer in die Musik eindringen, abseits von Moden, Erwartungen und Trends. Mit "Zwei-Mann-Orchester" (1973) war diese Richtung für mich abgeschlossen und ich war frei, etwas anderes zu machen, und mich nicht zu wiederholen.

Straebel: Ist das auch eine Last, immer wieder mit einer bestimmten Erwartungshaltung konfrontiert zu sein?

Kagel: Das kann geschehen, wenn Auftraggeber zum Beispiel auf eine Wiederholung des vor-vorherige Stückes hoffen, weil das Erfolg hatte. Ich habe mich mein Leben lang gegen solchen Druck verteidigt. Deshalb plane ich auch immer langfristig und werde nicht erst einen Monat vor der Uraufführung fertig.

Straebel: Hat die Kategorie des Meisterwerkes für Sie noch Bedeutung?

Kagel: Ich bin ein komponierender Handwerker und lege deshalb Wert auf eine Arbeit, die ich stets verantworten kann. Wenn es ein Meisterwerk wird, soll ich mich dafür schämen oder klagen? Die Diskussion darüber in den siebziger Jahren war kindisch und ein Armutszeugnis dilettierender Kulturideologen. Der Werkbegriff hat nie aufgehört zu existieren.

Straebel: In der jüngeren Debatte haben ja einige Theoretiker das Meisterwerk wieder stark gemacht, um den ästhetischen Wert des Experiments zu mindern. Diesem Dualismus würden Sie wahrscheinlich widersprechen.

Kagel: Vollkommen. Es geht mir nur um Eines: mit musikalischen Mitteln aufrichtig sein.

Straebel: Ein anderes Thema. Sie haben wichtige Beiträge zur Entwicklung des experimentellen Musiktheaters geleistet. Wo stehen Sie da im Moment?

Kagel: Ich arbeite nicht mehr mit dem üblichen Theater-Apparat. Ende des Jahres wird ein großes Stück in Amsterdam uraufgeführt, "Entführung im Konzertsaal - Musikalischer Bericht eines Vorfalls". Fast die Hälfte der Mitwirkenden von Chor und Orchester sind entführt worden und in einem Probenraum des Konzerthauses eingeschlossen. Der Entführer meldet sich dann per Telefon und seine Gespräche mit dem Dirigenten sind im Saal zu hören. Es handelt sich um eine neue Form, die gespeist wird sowohl aus der absoluten Musik wie auch aus dem konzertanten Musiktheater. Die theatralischen Momente ergeben sich aus der Ausführung der Musik selbst, sie sind mit dem Thema des Stückes identisch. Ich bin ziemlich entsetzt, dass Entführungen ein regelrechter Industriezweig geworden sind. "Entführung im Konzertsaal" ist politisches Musiktheater in dem Sinne, dass es einen Teil unserer Wirklichkeit wiederspiegelt. Wirklichkeit ist immer politisch.

Straebel: Ihre Vorstellung von Musiktheater kommt also ohne Bühne aus?

Kagel: Theater ist eben nicht nur das, was auf der Bühne stattfindet, es findet auch virtuell im Kopf statt. Ich habe auch gerade einen Fernsehfilm gedreht: "Bestiarium" nach einem Stück von 1976 für zwei kleine Bühnen, die ich selbst entworfen habe. Meine Filme sind meine Opern. Ich finde sie vollkommener und zukunftsträchtiger als Bühnenarbeiten.

Straebel: Sie haben seit Ende der fünfziger Jahre intensiv am Europäischen Musikleben teilgenommen. Wie hat sich nach Ihrer Beobachtung in dieser Zeit das Klima gegenüber der Avantgarde verändert?

Kagel: Es gibt Städte, in denen das Klima günstig ist für die zeitgenössische Musik, andere dagegen, mit einer feindlich gestimmten Atmosphäre. Genauso wie das Publikum animiert werden kann, Neue Musik zu schätzen, kann es aufgehetzt werden, sie zu verachten. Es ist hauptsächlich eine Aufgabe der Programm- und Kulturpolitik, mit überzeugter Liberalität zu handeln. Komponisten sind merkwürdige Gestalten: sie haben nur die geistige Macht ihrer Musik zur Hand.

Volker Straebel 5.00

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leicht verändert unter dem Titel "Wie organisiert man das Chaos?" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 17.Mai 2000
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