Noise aus Japan

Laute Reise ins Unbewußte

Dieses Konzert ist eine physische Grenzerfahrung. An der Kasse des Podewil warnt ein Schild vor der extremen Lautstärke und weist darauf hin, daß die Veranstalter für körperliche Schäden keine Haftung übernehmen. Und in der Tat, als wir trotz Ohrstöpseln nach zwei Dritteln des Programms aus schierer Not das Weite suchen mußten, war ein deutliches Klirren der Fenster an der Hauptfassade des ehrwürdigen Hauses zu vernehmen - angeregt allein durch die akustische Energie japanischer Noise-Musik im Innern.

Meltdown of Control überschrieben die prominenten Vertreter der in Reaktion auf Industrial entstandenen Musik-Szene ihr Konzert, und der Titel ist zugleich Programm. Wie Tetsuo Furudate, der als Frontmann des Trios Autrment Qu'etre auftrat, haben viele Noise-Musiker ihre Wurzeln in der Bildenden Kunst. Sein fast schüchterndes Murmeln übertönten bald die geräuschhaften Liegeklänge von verstärkter Drehleier (Pneuma) und mit einem Bogen getrichener E-Gitarre (Arima), denen Furudate dann mit brachialem Körpereinsatz aus dem Keyboard geschlagene Rauschkaskaden entgegensetzte. Hoch energetische Performance an Stelle von kompositorischer Kontrolle. Gesampeltes Hohngelächter rückt das Ganze schließlich in die Nähe morbider Jugendkulturen (Gothics): Noise, so Furudate, soll auf die Stille vorbereiten, die früher oder später eintritt - Musik, die dem Tod vorausgeht.

Masami Akita, als Merzbow intellektueller Kopf der Bewegung, sieht im Noise das "primitive und kollektive Unbewußte der Musik". Früher versandte er seine Tapes zusammen mit Pornographie als Mail Art, heute versucht er auf der Bühne wirrem Low-Tech-Equipment seine Libido zu entlocken. Daß zu diesem auch ein Drumcomputer gehört, der regelmäßig in die auf- und abschwellend gefilterten Rauschbänder stottert, enttäuscht jedoch. Da bringen Mayuko Hino und Hiroshi Hasegawa von CCCC die Archaik dieser Musik eher auf den Punkt: Ein mit einem Kontaktmikrophon versehendes Kupferblech versorgt die Table-Top-Electronics mit dröhnendem Ausgangsmaterial, das in extrem raschen Schleifen massive Differenztöne im Baßbereich erzeugt. Über eine Theremin-Antenne gesteuerte Sinustöne und Tiefpaßfilter stehen dazu in gestisch-glissandierendem Kontrast - Wiedergeburt des Futurismus, mit dem die Musik dieses Jahrhunderts einst begann.

Volker Straebel 7.98

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leicht verändert unter dem Titel "Wie Japaner krachen" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 3.Juli 1998
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