Elektronisches aus Berlin

Boris Hegenbarts CD-Objekt "hikuioto"

Seit den sechziger Jahren hat die Elektronische Musik auch ein Leben außerhalb der großen Studios geführt. Die ersten portablen Synthesizer hielten Einzug auf den Bühnen des Psychodelic Rock und Spulentonbandmaschninen luden in den Wohnzimmern der HiFi-Freunde regelrecht zur Manipulation der aus Radio und Natur aufgezeichneten Klänge ein. In dieses Klima des "Tonbandelns" wuchs der 1969 in Berlin geborene Boris Hegenbart hinein. Was im Kindesalter mit meterlangen, dank Vaters Hilfe durch die ganze Wohnung geführten Tonbandschleifen begann, ist nun bei der dritten Stufe der Demokratisierung elektronischer Musik angelangt: beim Computer. Unter dem Künstlernamen 1/TAU brannte Hegenbart seine erste CD.

Der Titel "hikuioto" führt nach Japan, ebenso die handgeschöpfte, mit Prägedruck gestaltete CD-Hülle, auf deren Rückseite nur ein kleines metallisch-silbriges Schildchen, den Marken auf der Rückseite elektrischen Geräte ähnlich, über die sieben Tracks sparsam Auskunft gibt. Die Klänge stammen jedoch aus England, wo Hegenbart 1995 eine Gruppe japanischer Studenten traf. Auf seine Bitte hin kramten diese in ihren Grundschulerinnerungen und sprachen und sangen ihm Haikus ins Mikrophon - alltägliche Begegnung der Kulturen, deren Konflikte "hikuioto" musikalisch ausleuchtet.

Da treffen grobe Statements Londoner Obdachloser auf die zarten Gebilde japanischer Literatur ("homeless"), da wird eine raffiniert in Schleifen angelegte Soundscape immer wieder roh von unmotivierten Generalpausen unterbrochen ("tacet"). Nur scheinbar wortspielerisch konfrontiert Hegenbart die auf Erdung zielende Atemübung eines japanischen Kampfmeisters mit dem Erdungsbrummen seines Homestudios ("grounded"), bringt er hier doch erfrischend direkt die Welten von Natur und Technik, Spiritualität und Rationalismus zusammen. Zentrum der CD, die nach japanischem Vorbild auch das Unsaubere, Rohe mit in die Kunst hineinnimmt und dem Rauschen sowie der Vergröberung der Klänge durch niedrige Samplingrates weiten Raum gibt, ist das fünfundwanzigminütige (Quadrat der Tracknummer fünf?) "musicforcicadas". Ein langsam in Schleifen abgetastetes Vokal-Sample entfaltet plötzlich den Sog amerikanischer Repetitive Music - und beweist erneut, daß Hegenbart das Niveau der Klangbastelei, wie auch das vieler seiner Kollegen aus dem elektronischen Underground längst hinter sich gelassen hat.

Volker Straebel 10.97

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leicht verändert unter dem Titel "Handgeschöpft" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 26. Okt. 1997
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