Dass Musik sich nicht im Klingenden erschöpft, beweisen solche Werke, in die Erfahrungen aus der Konzeptkunst der sechsziger Jahre eingeflossen sind. Das Hörbare mit seinem Ausdrucksgehalt ist nicht mehr Gegenstand sondern Ergebnis einer Komposition, deren abstrakter Gehalt das Werk eigentlich ausmacht. Eine Aufführung transponiert dann nur einen Ausschnitt des rein geistigen Kunstwerkes in die mit den Sinnen erfahrbare Welt. Der Hörer wohnt in der Musik dem gedanklichen Gegenstand bei – die Musik handelt gerade von dem, was sie nicht ist.
Der Kanadier Rodney Graham hat 1989 mit "Parsifal (5:00 P.M., Wednesday, July 26, 1882 to 7:30 P.M., Monday, June 18, 38.969.364.734 A.D.)" ein exemplarisches Stück konzeptioneller Musik geschaffen. In einer siebentaktigen Passage aus der Verwandlungsszene im 1. Akt von Wagners "Parsifal" fügte Graham den vierzehn Orchesterstimmen jeweils so viele Pausen hinzu, dass sich für jede Stimme eine andere Dauer von drei bis 47 Takten ergab. Diese Passagen denkt Graham nun seit der Uraufführung des "Parsifal" in Bayreuth 1882 in Schleifen gespielt. Weil die Dauern der Schleifen im Verhältnis kleiner Primzahlen zueinander stehen, wird das Orchester erst nach annähernd 39 Milliarden Jahren wieder zusammen sein (das Programmheft der Berliner Aufführung übernimmt fälschlich den Begriff "Billionen" aus dem Englischen).
Im Hamburger Bahnhof unternahm nun das Kammerorchester "Generation Berlin" unter der Leitung von Christian von Borries die Uraufführung der Instrumentalfassung. Dabei gab man den "Echtzeitausschnitt" am 18. Juni von 20.18 Uhr 13 Sekunden bis 22.19 Uhr 23 Sekunden, also den aktuellen Ausschnitt der bereits 118 Jahre andauernden Komposition. Dessen Anfang war mit dem gleichzeitigen Beginn der Schleifen in Flöte, 2. Oboe, Englisch Horn, Kontrafagott und 1. Violine mit Bedacht gewählt. Das Ensemble agierte zwei Stunden lang in großer Ruhe konzentriert und mit sisyphoshaft ins Leere laufenden Expressivität. Die aus der Gleichzeitigkeit gelösten Einzelstimmen etablieren eine Vielzahl neuer Bezüge, etwa zwischen annähernd parallel verlaufendem Cello- und Kontrabasspart, deren chromatisch aufsteigende Linie sich ins Gedächtnis bohrt. Ebenso das Lamento der Bratsche oder die isolierten Bläsertöne. Die Sequenzen der Geigen schließlich scheinen das Ganze des Werkes nocheinmal im Detail abzubilden: die variierte Wiederholung des bereits Vertrauten.
Dass diese Uraufführung im Hamburger Bahnhof vor Walter De Marias "2000 Sculpture" stattfand, zeugt von der künstlerischen Sensibilität der Programmgestalter. De Maria wie Rodney Graham geben in ihren Werken begrenzte Ausschnitte vom potentiell Unendlichen und handeln so in verschiedenen Medien vom gleichen Thema. Parsifals Reise zum Gral liegt ebenfalls außerhalb der Zeit. Dieses Paradox in die Zeitform der Musik zu gießen, ist Graham mit seinem Stück konzeptionell wie musikalisch überzeugend gelungen. Zum Raum ward hier die Zeit.
Volker Straebel 6.00