Besondere Anlässe begeht man gern auf besondere Weise, und so mußten es schon Uraufführungen zweier bereits verstorbener Großer der Kunst und Musik sein, die zur Eröffnung des "Medien-Archivs Joseph Beuys" im Hamburger Bahnhof geboten wurden. Diese bemerkenswerte, dem Museum für Gegenwart assoziierte Einrichtung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das gesamte Film- und Tonmaterial, das Beuys' Schaffen dokumentiert, zu sammeln, durch Digitalisierung vor Alterung zu schützten und dem interessierten Publikum zugänglich zu machen. Zwölf Stunden Material sind auf den Festplatten bereits verfügbar, unter anderem auch das zur Eröffnung in der Ostgalerie projizierte rund einstündige Video der Aktion "Coyote III", die Beuys zusammen mit Nam June Paik 1984 in Tokio improvisierte.
Paik, der in den 60er Jahren als Aktionsmusiker Furore gemacht hatte, trat hier mit schwelgerischer Hingabe als Sachverwalter europäischer Klavierliteratur auf, spielte neben Beethoven, Schubert und Chopin auch koreanischer und japanischer Lieder, unterbrach seine Versenkung mit aggressiven Cluster-Ketten und werkelte hin und wieder im Innern seines Flügels. Beuys hingegen ließ sein Instrument, einen futuristisch geformten, knallroten Bösendorfer von 1958, unangetastet, machte wenige Notizen auf der unvermeidlichen Schultafel und verwuchs förmlich mit seinem Mikrophon, in das er glotturale ö-Laute stieß. Irgendwo an der Grenze von Sprachfindung und animalischem Klang gelangen intensive Momente, der Schamane wurde zum gehetzten Tier, um bald wieder zu den Alliterationen einer anthroposophischen Sprachübung zurückzukehren. Deren "Erfüllung geht durch Hoffen, geht durch Sehnen, durch Willen" warf allerdings ebenso wie das den abgestumpften Musikkonsum kritisierende "Beethoven, Meat, Schweinefleisch" ein unfreiwillig kritisches Licht auf die Präsentation im Hamburger Bahnhof. Statt den Videofilm das sein zu lassen, was er ist, bloßes, wenn auch bedeutendes Dokument einer einmaligen Aktion, erklärten die Veranstalter ihn selbst zum Kunstwerk, indem sie seine erste vollständige öffentliche Aufführung (Teile hatte Paik bereits während Beuys' letzter Performance "Simultankonzert an drei Klavieren" 1985 in Hamburg gezeigt) als Uraufführung deklarierten.
Äußerst heikel auch die angebliche Uraufführung von "For a Singer (1st Piece)" von John Cage. Das mit diesem Titel überschriebene Doppelblatt schenkte Cage Beuys zu dessen 60. Geburtstag 1981. Es handelt sich um einen aufgegebenen Entwurf aus dem Umfeld der "Time Length Pieces" (1953-56), der wohl einige Schlüsse auf die Struktur des geplanten Stückes für einen Sänger zuläßt, jedoch eindeutig nicht bis zur Aufführungsreife gediehen ist. Dies ergab auch ein musikwissenschaftliches Gutachten, aufgrund dessen man in Darmstadt von der bereits geplanten "Uraufführung" wieder Abstand nahm. Dennoch ging der seit frühen Fluxustagen mit Person und Werk Cages vertraute Takehisa Kosugi auf Drängen Paiks das Risiko ein, aus dem Skizzenmaterial Anweisungen für eine Stimmperformance abzuleiten. Aus den Tempokalkulationen Cages resultieren so die für jeden der vier Sätze verschiedenen Geschwindigkeiten, in denen Kosugi den Klang zwischen zwei Lautsprechern hin- und herpendeln ließ, die Angaben zur Dichte interpretierte er als Anzahl von mittels pitch-shifting erzielten Überlagerungen seiner Stimme. Daß die hier verwendete Live-Elektronik zur Entstehungszeit der Vorlage ebenso wenig zur Verfügung stand wie die Erzeugung sensibel gestalteter, von sekundenlangen Pausen umrahmter Einzelklänge nicht der Ästhetik des Cage der 50er Jahre entspricht, soll nicht verschwiegen werden. Andererseits versuchte Kosugi den Notaten möglichst gerecht zu werden, besprach sich mit anderen Vertrauten Cages wie David Behrman und befragte im Zweifelsfall das I-Ging, jenes chinesische Orakelbuch, das Cage auch für diesen Entwurf herangezogen hatte. "Es ist sehr logisch, aber gut möglich" war eine seiner Antworten, die letztlich zu einer spannungsvoll konzentrierten, klanglich höchst differenzierten Aufführung führten - kein Cage, wohl aber in dessen Geist.
Volker Straebel