"Defragmentation/red"
von Bernhard Gal und Yumi Kori

Rede gehalten zur Vernissage der Klanginstallation im Großen Wasserspeicher Belforter Straße Berlin im Rahmen der Kryptonale VI am 8. September 2000

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das Nachdenken über Werke des verhältnismäßig jungen Genres der Klanginstallation hat in den letzten 15 Jahren bereits überraschend feste Strategien der Interpretation ausgeprägt. Während man üblicherweise geneigt ist, sich einem Kunstwerk zunächst deskriptiv und analytisch zu nähern, steht bei der Rede über Klanginstallationen rasch der Rezipient im Vordergrund. Sein Wahrnehmen und Erleben wird bedacht, weniger das, worauf dieses sich bezieht. Der Betrachter und Hörer wird Gegenstand der Reflexion, womit er in gewisser Weise eben die Stelle einnimmt, die bislang dem Kunstwerk vorbehalten war.

Diese Entwicklung liegt hauptsächlich darin begründet, dass eine Klanginstallation als objekthafter Gegenstand weniger greifbar ist als eine Skulptur oder ein Tafelbild, ja weniger sogar als ein Musikwerk oder ein Film. Abgesehen davon, dass den meisten Klanginstallationen nur ein kurzes Leben vergönnt ist und sie wegen ihrer Gebundenheit an einen spezifischen Ort oft nach der Dauer einer Ausstellung verschwinden und nicht wieder hergestellt werden können, sind sie in extremerer Weise Zeitkünste als die Musik: Sie belassen den Besucher in seiner Eigenzeit. Der Rezipient ist frei zu kommen und zu gehen. Jeder erfährt damit einen jeweils anderen Ausschnitt aus dem klanglichen Geschehen, wobei diese Erfahrung auch von dem Ort abhängig sein kann, an dem sich der Besucher in der Installation zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhält. Dass bei einem derart "flüssigen" und nur bedingt kommunizierbaren Gegenstand der Reflexion der Interpret sich lieber an den Rezipienten hält, ist nicht verwunderlich.

So wurde der Diskurs über Klanginstallationen also weniger vom Wahrgenommenen als von der Wahrnehmung selbst geprägt und dass der Besucher einer Klanginstallation letztlich seines Wahrnehmens und damit der Bedingtheit seiner Welterfahrung und seiner selbst bewusst wird, wurde zum Allgemeinplatz. Ebenso die eigentlich befremdliche Rede, der Klangkünstler gestalte nicht sein Werk in Raum und Zeit, sondern er gestalte in seinem Werk Raum und Zeit selbst. Die Kategorien der Anschauung würden also Gegenstand künstlerischer Produktion.

Eben dieses behaupten auch die japanische Architektin Yumi Kori und der Wiener Komponist Bernhard Gal von ihrer Installation "Defragmentation/red", in die einzuführen ich die Freude habe. Es handelt sich um das dritte Werk in der 1997 begonnenen Reihe von – so der Untertitel – "audio-visuellen Erforschungen der Zeit", nach "Defragmentation/blue" in New York und "Defragmentation/white" in Tokio folgt nun also eine rote Arbeit im Großen Wasserspeicher am Prenzlauer Berg.

Der Zeitaspekt wird am deutlichsten in dem Klanganteil von "Defragmentation/red". Gal etabliert drei untereinander nicht synchronisierte Klangebenen. Da gibt es zunächst einen sehr hohen, fast an Ohrenpfeifen erinnernden Klangbereich, der etwa alle zwei Minuten verstummt und nach ebenso langer Zeit wieder einsetzt. Hinzu tritt ein tiefes Rauschen, das Gal durch verlangsamtes Abspielen von Aufnahmen einer Meeresbrandung gewann. Die Wellen erklingen nun eine große Septime oder einen weiteren Tritonus tiefer und entsprechend langsamer als im Original und sind kaum noch als Wassergeräusche zu erkennen. 80 Sekunden Rauschen wechselt mit 160 Sekunden Stille. Der dritte, die zeitliche Erfahrung dominierende Klangbereich schließlich besteht aus leicht verstimmten, langsam glissandierenden Klängen, die alle 80 Sekunden von einem kaum verfremdeten Glockenschlag gegliedert werden. Jeder Glockenschlag markiert den Beginn eines neuen Abschnittes – Gal spricht von "Zeit-Fenstern" – und damit den Wechsel von Lage und/oder Bewegungsrichtung der langsam gleitenden Klangverläufe. Ein alle zehn Sekunden auftretender Signalton wirkt als kontinuierliches Metrum.

Ich habe den objektivierbaren akustischen Gegenstand von "Defragmentation/red" so ausführlich dargestellt, um ihn gegen den wahrgenommenen besser abgrenzen zu können. Denn ohne experimentelle Hilfsmittel werden Sie als Besucher der Installation kaum in der Lage sein, ihn dergestalt zu analysieren. Leichter fällt dies mit den 17 Lichtobjekten, die Yumi Kori im Labyrinth des Wasserspeichers anbrachte. Es handelt sich um etwa zwei Meter lange Röhren aus transparentem Acryl, die im Zentrum der Gänge vereinzelt von der in der Dunkelheit nicht sichtbaren Decke hängen und von oben her aus ihrem Innern rot leuchten. Ihre Oberfläche weißt auf Alterung deutende Kratzspuren auf, ihre geometrische Form ist jedoch ohne Makel. Zu den Leuchtobjekten tritt wie ein Schatten – die Künstlerin spricht von "Geist" – ihre Spiegelung auf dem feuchten Boden des Wasserspeichers hinzu.

Als Besucher von "Defragmentation/red" finden Sie sich in produktiver Weise überfordert. Die räumliche Orientierung in dem allein von den Lichtobjekten schwach beleuchteten Wasser-Reservoir fällt selbst dann schwer, wenn man dessen Grundriss kennt. Denn die roten Leucht-Markierungen, die auf die Entfernung wie zweidimensionale Streifen wirken und erst bei näherer Betrachtung ihre zylindrische Form preisgeben, gleichen einander genau. Sie bieten also keinen Anhaltspunkt dafür, ob man eine bestimmte Position schon einmal erreicht hatte oder sie zum ersten Mal einnimmt. Hinzu kommt, dass von jedem Ort ohne Drehung des Kopfes immer nur ein Objekt mit seiner Wasserspiegelung sichtbar ist. Die räumlichen Verhältnisse der Objekte lassen sich nicht "auf einen Blick" erfassen.

Damit gilt für die Erfahrung des Raumes mit seinen Objekten das gleiche wie für die Erfahrung der Musik: sie ereignet sich in der Zeit. Visuelle wie akustische Reize akkumulieren in der kognitiven Repräsentation und konstituieren die Erfahrung als psychophysikalisches Konstrukt. Der Rezipient bleibt dabei im Zweifel über den Wahrheitsgehalt seiner Wahrnehmung: die zeitliche Entfernung zwischen zwei Glockenschlägen ist ebenso wenig zu vergleichen wie die räumliche zwischen zwei Lichtobjekten. Dafür tritt das Kontinuum multisensorischer Rezeption ins Bewusstsein. Die Wahrnehmung einzelner Abschnitte verbindet sich zu einem Ganzen voll interner Wechselbezüge. Die Fragmente der Außenwelt werden ebenso wie die Weisen der Wahrnehmung defragmentiert.

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