John Cage: "Time-Length Pieces" (1953-56)

Konzert im Rahmen der MaerzMusik 2002

1952 hatte John Cage in seinem unbetiteltem Happening im Black Mountain College erstmals Akteure gleichzeitig, aber unabhängig voneinander agieren lassen. Die Partitur bestimmte einzig die Zeitpunkte von Beginn und Ende der einzelnen Aktionen (Lesung, Projektion, Klavier- und Schallplattenspiel, Tanz). Im darauf folgenden Jahr entwickelte Cage dieses Modell der unvermittelten Gleichzeitigkeit weiter, wobei er auf die Festlegung der Einsätze der einzelnen Spieler verzichtete. In der Music for Piano (1953-56) können beliebig viele Pianisten aus einem Reservoir von achtzig kurzen Stücken wählen und diese in beliebiger Kombination, Reihenfolge, Überlagerung und Dauer aufführen. Aufgrund der gleichen Besetzung und der Möglichkeit der Wiederholung sind diese Stücke permeabel, sie durchdringen einander in einem indeterminierten Zeit-Raum. Der Werkkomplex der Time-Length Pieces, an dem Cage ebenfalls 1953 bis 1956 arbeitete, etabliert hingegen bei seiner Simultanaufführung eine andere Konzeption der Gleichzeitigkeit. Die anspruchsvollen Solo-Werke für unterschiedliche Instrumente behaupten deutlicher ihre Eigenständigkeit und die musikalisch dichteren Strukturen erzeugen bei Überlappungen unweigerlich Auslöschungen statt Durchdringungen.

Das Projekt der Time-Length Pieces hatte Cage im Mai 1953 in einem Brief an Pierre Boulez angekündigt: "Von Zeit zu Zeit habe ich Ideen für mein nächstes Stück, das, soweit ich sehe, ein groß angelegtes Werk werden wird, an dem ich immer weiter arbeiten werde und das nie vollendet sein wird; man wird jede der Stimmen gleichzeitig spielen können, sobald ich begonnen habe. Es wird Tonband einschließen und alle anderen Aktionen in der Zeit, dabei keineswegs Geigen ausschließen oder alles mögliche andere, dem ich meine Aufmerksamkeit zuwenden könnte."(1)

Alle Stücke des Zyklus folgen der gleichen Zeitstruktur, deren Einheiten durch mittels Zufallsoperationen bestimmten Faktoren unterschiedlich gespreizt werden. Ihre Grund-Proportionen lauten 3, 7, 2, 5, 11, 14, 7, 6, 1, 15, 11, 3, 15. Die Summe dieser 13 Strukturelemente beträgt 100, und 100 mit sich selbst multipliziert ergibt 10.000, eine Zahl, die in der taoistischen und buddhistischen Tradition für die materiale Vielfalt des Universums steht. In dem zeitlich strukturierten Vortrag 45' for a speaker, der selbst zu den Time-Length Pieces gehört und dem gleichen Formschema wie die anderen Stücken folgt, weist Cage ausdrücklich auf diese Konnotation hin: "Es ergab sich, dass die Folge der Zahlen, die die Grundlage dieses Werkes bilden, sich zu 100 x 100 addieren, was 10.000 ist. Das ist für den Augenblick erfreulich: Die Welt, die 10.000 Dinge."(2) Damit findet sich das Phänomen der unvermittelten Gleichzeitigkeit, der Vielgestaltigkeit der Welt, nicht nur in der flexiblen Überlappung der Einzelstücke, sondern auch in der Zahlensymbolik ihrer aller Form geborgen.

Bemerkenswert ist, dass Cage mit den Besetzungsangaben der Time-Length Pieces erstmals nicht ein Instrument, sondern einen Instrumentalisten benennt. Dies geht zurück auf den im unbetiteltem Happening im Black Mountain College erprobten und in der Folge theoretisch entwickelten, erweiterten Theaterbegriff Cages. Die Musiker verschwinden nicht mehr hinter ihren Instrumenten, sondern ihr Spiel wird als szenische Aktivität gedeutet: "Theater findet immer statt, ganz gleich, wo man gerade ist"(3) führt Cage in 45' for a speaker aus erklärt zu dem Vortrag selbst: "Es ist kein Vortrag, aber auch keine Musik; es ist notwendigerweise Theater: was sonst? Wenn ich, wie ich es tue, Musik wähle, bekomme ich Theater, das heißt, ich bekomme das außerdem."(4)

In den Partituren spiegelt sich diese Haltung wider. Während in der traditionellen Notenschrift das akustisch Klingende symbolisiert wird, bezeichnen die Partituren der Time-Length Pieces Ausführungsvorschriften zur Klangerzeugung. In den Stücken für beliebiges Streichinstrument beispielsweise ist jede der vier Saiten mit je einem vertikalen Band repräsentiert, in dem die Stellen, an denen der Spieler die Saite niederdrücken soll, graphisch markiert wurde. Bogendruck, Verhältnis von Spiel mit dem Bogenhaar oder -holz, schließlich die Spielposition zwischen Griffbrett und Steg finden sich ebenfalls graphisch, als vertikale, zwischen den Extremen pendelnde Linien angezeigt. So findet sich der Musiker instruiert, bestimmte Aktionen auszuführen, die unweigerlich Klänge erzeugen, nicht aber angewiesen, vom Komponisten vorgeschriebene Klänge hervorzubringen. Hier überschreitet Cage die Schwelle vom im Kompositionsprozess genutzten Zufall (chance) zur Indetermination (Indeterminacy) der aktuellen Aufführung. Die Partituren sind nicht mehr zu lesen, nur zu realisieren: "Musik lesen ist etwas für Musikwissenschaftler. Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Noten und Klängen."(5) Der Komponist wird in der Erfahrung der Aufführung dem Hörer gleich.

Volker Straebel 2.02

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leicht verändert im Programmbuch der MaerzMusik 2002
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

  1. Brief von John Cage an Pierre Boulez vom 1.5.1953, in: The Boulez-Cage Correspondence, hrsg.v. Jean-Jacques NattiezCambridge University Press1993, S. 143
  2. John Cage, 45' for a speaker (1954), in ders.: Silence, Wesleyan University Press 1961, S. 182f.
  3. ibd. S. 174
  4. ibd. S. 166
  5. ibd. S. 172