John Cage: "Atlas Eclipticalis"

Aufführung mit Ulrich Krieger, Tobias Rüger, Reimar Volker - Sopran-Saxophone und Volker Straebel - Live-Elektronik
Berlin, Künstlerhaus Bethanien 2000

Für "Atlas Eclipticalis" übertrug John Cage Sternenkarten auf zufällig platzierte, transparente Notensysteme. Im Konzert ist so die Zeit proportional zur horizontalen Entfernung und die Tonhöhe proportional vertikalen Entfernung der Sterne voneinander. Es gibt kein verbindliches Metrum, die Musiker spielen nach Stoppuhren. (Bei einer Aufführung mit großer Besetzung zeigt der Dirigent die verstreichende Zeit an, wobei er seine Arme wie den Sekundenzeiger einer Uhr bewegt.) Ebenso gibt es keine feste Tonskala. Die weit gespreizten Notenlinien dienen nur der Orientierung im Tonraum, die zwischen ihnen liegenden Notenköpfe werden graphisch interpretiert und zeigen zumeist mikrotonale Verhältnisse an. Die Lautstärke der einzelnen Töne ist proportional zur Größe (also Helligkeit) der Sterne.

Nur die Dauern bestimmte Cage nach einem anderen Zufalls-Verfahren: dem chinesischen Orakel-Buch I-Ging. Über jeder der zu einer Konstellation zusammengefassten Tongruppen stehen zwei Zahlen, deren erste angibt, wie viele Töne so kurz wie möglich zu spielen sind, die zweite Zahl bestimmt, wie viele Töne "eine erkennbare" Dauer ("appraciable duration") haben. Fehlen die Zahlen, erscheinen alle Klänge so kurz wie möglich, steht eine Fermate über der Konstellation, haben alle Töne "eine gewisse" Dauer ("some duration").

Da die meisten Töne sehr leise gespielt werden sollen, entsteht für die Musiker dieser Aufführung ein nicht wirklich zu lösender Konflikt: Die Sopran-Saxophone sprechen bei leisen Klängen weniger schnell an als bei lauten. Deshalb werden die Töne durch die instrumententechnischen Gegebenheit zum einen länger, zum anderen treten beim gewöhnlichen Spiel vermiedene Ansatz- und Luftgeräusche hinzu.

"Atlas Eclipticalis" besteht aus 86 Instrumental-Stimmen, die in jeder beliebigen Kombination von der Kammer- bis zur Orchesterbesetzung gespielt werden können. Heute kommen die drei Oboen-Stimmen in der vom Komponisten ausdrücklich vorgesehenen Alternativbesetzung mit Saxophonen zur Aufführung. Wie von Cage in der Partitur angegeben, folgt die Live-Elektronik einer Ausarbeitung seiner "Cartridge Music" (1960) und bestimmt Verstärkung und Klang-Filterung der drei Instrumente. Dabei geschieht Folgendes: Alle Saxophone werden mit kleinen Klemmmikrophonen ausgestattet (Cage schreibt Kontaktmikrophone vor, die bei Blasinstrumenten aus physikalischen Gründen jedoch nicht sinnvoll sind). Über diese Mikrophone werden alle Klänge und Geräusche ohne weitere Eingriffe abgenommen, verstärkt und über einen beim Musiker platzierten Lautsprecher wiedergegeben. Außerdem wird gemäß "Cartridge Music" jeweils ein Signal eines der drei Musikers unterschiedlich gefiltert, verstärkt und über einen dem Musiker gegenüber aufgestellten Lautsprecher abgestrahlt.

Durch die vielen Pausen der Einzelstimmen und der zeitlich wechselnden Verstärkung des gefilterten Klanges kommt es sehr oft vor, dass keine live-elektronische Veränderung zu hören ist. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten wäre es ein Leichtes, mehrere Stimmen von "Cartridge Music" zu simulieren und so die live-elektronischen Veränderungen zu verdichten. Im Sinne einer historischen Aufführungspraxis habe ich jedoch davon Abstand genommen und verwende nur solches Equipment, das in vergleichbarer Form bereits zur Entstehungszeit der Werke zur Verfügung stand.

Außerdem kommt dieses Filtern und Verstärken nicht gespielter Klänge, also von Stille, der ästhetischen Grundhaltung der Komposition entgegen. In unserer Fassung ergeben sich bis zu drei Minuten lange Pausen, die gewissermaßen den Raum zwischen den Sternen ausloten. Diese Stille ebenso klingen zu lassen wie die akustischen Ereignisse entspricht der transzendentalistischen Vorstellung vom – nicht immer hörbaren – Schwingen der Natur.

Volker Straebel 09.2000

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Programmheft / program notes
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