Portrait der Künstlerin als Forscherin

Ein Nachruf auf Maryanne Amacher

Maryanne Amacher ist eine Legende. Ihre ortsspezifischen Aufführungen elektro-akustischer Musik und Klanginstallationen waren im Kern ephemer und nur dem leibhaftig anwesenden Publikum bekannt. Dies hat weniger inhaltliche Gründe als akustische: Amacher fokussierte auf die Klangabstrahlung über die architektonischen Flächen, die den Raum umgeben („structure-borne sound“), und maß der direkten Verbreitung des Klanges durch die Luft weniger Bedeutung bei („air-borne sound“). Damit bedeutet die Ablösung eines akustischen Werkes vom Raum seiner Präsentation einem grundlegenden Eingriff in die Werkidee, der der Autorin vorbehalten bleibt. Und tatsächlich konnte man – wie ich als Mitveranstalter einer Aufführung ihres Making the Third Ear 2003 in Berlin zu berichten weiß (1) – Amacher nicht einfach für eine Konzertaufführung vorhandener Stücke gewinnen. Ihr „Soundcheck“ dauerte etwa eine Woche, in der sie Tag und Nacht den Aufführungsraum akustisch erkundete, um schließlich aus dem auf einer Vielzahl von DAT-Cassetten mitgeführten musikalischen Material eine Auswahl zu treffen. Mehrere Schichten wurden live überlagert und gemischt. Während der Aufführung verwandelte sich dann Maryanne Amacher in eine expressiv agierende Musikerin, die in ekstatischen Gesten mit dem Pult verschmolz wie mit einem Instrument. Es ist naheliegend, dass Amacher der Verbreitung ihrer Arbeiten auf Tonträgern kritisch gegenüberstand. Die wenigen veröffentlichten CDs und Beiträge auf Samplern haben den Charakter von Dokumenten. Bewusst oder unbewusst verstärkte Maryanne Amacher mit dieser Haltung die Mythenbildung um ihre Person und ihr Werk.

Rückblickend auf ihre gemeinsame Arbeit im Elektronischen Studio der TU Berlin 1986 schrieb Amacher 2003 an dessen Leiter Folkmar Hein: „Who needs all this endless music? My question is when do we begin to understand? It's gone on far too long – this unconscious approach to the composition of music. Years and years!”(2) Die akustisch-musikalische Forschung, die der künstlerischen Produktion vorausgeht oder sie begleitet, war Amacher ein wesentliches Anliegen. So beschrieb sie bereits 1977 otoakustische, vom Ohr selbst emittierte Klänge und andere psychoakustische Phänomene, auf die sie in ihren musikalischen Arbeiten rekurrierte (3), und seit 1979 präsentierte Amacher einige ihrer Konzerte und Installationen unter dem Titel Research & Development (4). Der Forscherin wurde jedoch, ob ihres ästhetischen Interesses, wenig Anerkennung zu Teil, und der Künstlerin hat man ihre hybrid wissenschaftlichen Spekulationen nicht nachgesehen. So blieb Maryanne Amacher im akademischen Umfeld die Würdigung verwehrt, die sie verdient und die ihr eine kontinuierliche Arbeit ermöglicht hätte.

Geboren wurde Maryanne Amacher am 25. Febr. 1938 in Kane, Pennsylvania, wobei sie später ihr Geburtsjahr – selbst den amerikanischen Passbehörden gegenüber – mit 1943 angab.(5) Sie studierte Klavier am Philadelphia Conservatory of Music, Musik und Computer Sciences an University of Pennsylvania und Akustik an der University of Illinois, Urbana, wo erste elektro-akustische Arbeiten entstanden. Weitere Kompositionsstudien führten sie nach Salzburg, Dartington Devon (England) und zu Karlheinz Stockhausen.

Ihre Klang- und Medieninstallationen und Konzertaufführungen gliedert Maryanne Amacher in folgende Werkgruppen:

City-Links (seit 1967): Über hochwertige Telefonleitungen (15kHz) werden Klänge von einem oder mehreren Orten (drinnen oder draußen) aus der gleichen Stadt oder aus anderen Städten in ein Studio übertragen, wo sie von Amacher live gemischt werden. Die Darbietungen erscheinen als Konzert oder Installation oder, wie im Fall der ersten Realisation 1967 in Buffalo, NY als Radiostück.

Tone of Place: Pier 6, Boston Harbor (1973-79): Dreijährige Live-Übertragung von Klängen vom Hafen in Bosten in das Atelier von Amacher. Diese Klänge werden dann in verschiedene Galerien oder Museen übertragen oder in internationale Radio-Liveschaltungen eingebunden.

Lecture on the Weather und Empty Words/Close Up (1976-84): Zusammenarbeit mit John Cage. Amacher entwickelte den Sturm für Cages Multimedia-Komposition Lecture on the Weather und komponierte ausgehend von Aufnahmen am Walden Pond Close Up, das als Klangenvironment viele Aufführungen Cages von seinen Empty Words begleitete.

Music for Sound-Joined Rooms (seit 1980): Ortsspezifische Medieninstallationen und Performances, die sich über mehrere akustisch verbundene Räume erstrecken. Dabei etabliert Amacher ein Szenario, aus dessen visuellen Elementen die Besucher eine Narration entdecken können. Die erste Arbeit in dieser Reihe war Living Sound Patent Pending (Traveling Musicians Being Prepared) für das Walker Arts Center während des New Music America Festivals in Minneapolis. Amacher präparierte hierfür das leer stehende viktorianische Haus von Dennis Russel Davies.

Mini-Sound Series (seit 1985): Ausgehend vom Format der TV-Serie entwarf Amacher das Modell einer architektonisch-räumlich ausgebreiteten Klanginstallation, in der ein Personal von Klängen („Sound Characters“) agiert. Es entstehen Szenarien, die über mehrere Tage und Wochen sich entwickeln. Zu Amachers Serien gehören Sound House (San Francisco, 1985), The Music Rooms (Berlin, 1987), Stolen Souls (Amsterdam 1988), 2021 The Life People (Linz, 1989) und The Biaurals (Philadelphia, 1991).

Maryanne Amacher erhielt vielfältige Preise und Stipendien, darunter den Henry Cowell Foundation Award 2007, die Goldene Nica 2005, das Guggenheim Fellowship 1997, das Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD 1986/87, Fellowships am Redcliffe College, Harvard University 1978-79 und am Center for Advanced Visual Studies, MIT 1972-76. Seit 2000 lehrte Maryanne Amacher an der Graduate School of the Arts, Bard College. Sie starb am 22. Oktober 2009.

Volker Straebel

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leicht verändert in: MusikTexte 123 (Dez. 2009)
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) Maryanne Amacher: Making the Third Ear. Live-Electronic Performance, 1. Okt. 2003, Villa Elisabeth, Berlin, im Rahmen des Festivals 20 Jahre Freunde Guter Musik Berlin.

(2) Maryanne Amacher, Email an Folkmar Hein, 28. Aug. 2003, von Amacher am gleichen Tag weitergeleitet an Volker Straebel.

(3) Maryanne Amacher: "Psychoacoustic Phenomena in Musical Composition: Some Features of a 'Perceptual Geography'" [1977], in: Arcana III. Musicians on Music, hrsg. v. John Zorn. New York: Hips Road 2008, S. 9-24; vgl. auch Helga de la Motte-Haber: "In den Extremen der Dynamik. Maryanne Amachers Wahrnehmungslandschaften", in: Positionen, Nr. 10 (1992), S. 33-36.

(4) Z.B. The Kitchen, New York, 1979; Salle Borromini, Rom, 1980; Walker Arts Center, Minneapolis NM, 1980.

(5) Die folgende Schilderung basiert auf eignen Darstellungen Amachers, die sie mir im Oktober 2008 zur Verfügung stellte, und auf dem Nachruf von Allan Konzinn, New York Times 28. Okt. 2009.

Auswahlbibliographie

Maryanne Amacher: "2021 The Life People. A Four Part Mini-Sound Series for Ars Electronica, Linz", in: Kunstforum International, Nr. 103 (Sept./Okt. 1989), S. 248-254

Gordon Mumma, Allan Kaprow, James Tenney, Christian Wolff, Alvin Curran und Maryanne Amacher: "Cage's Influence: A Panel Duscussion", in: Writings through John Cage's music, poetry, and art, hrsg. v. David W. Bernstein und Christopher Hatch. Proceedings from the conference entitled "Here comes everybody: The music, poetry, and art of John Cage" which took place at Mills College in Oakland, Calif. from Nov. 15 to 19, 1995. Chicago; London: University of Chicago Press 2001, S. 167-189

Maryanne Amacher: "Psychoacoustic Phenomena in Musical Composition: Some Features of a 'Perceptual Geography'" [1977], in: Arcana III. Musicians on Music, hrsg. v. John Zorn. New York: Hips Road 2008, S. 9-24

Maryanne Amacher, Jeff Bartone und Gordon Monahan: "[Interview]", in: Musicworks, Nr. 41 (Summer 1988), S. 4-5

Maryanne Amacher und Frank J. Oteri: "Extremities. Maryanne Amacher in Conversation with Frank J. Oteri", in: New Music Box (May 1, 2004), www.newmusicbox.org/article.nmbx?id=2460 (Zugriff 06.01.2008)

Christina Kubisch: "Time into Space / Space into Time. New Sound Installations in New York", in: Flash Art, Nr. 88/89 (March/April 1979), S. 16-18

Leath Durner: "Maryanne Amacher: Architect of Aural Design", in: Ear magazine, Jg. 13, H. 10 (Feb. 1989), S. 28-35

Helga de la Motte-Haber: "In den Extremen der Dynamik. Maryanne Amachers Wahrnehmungslandschaften", in: Positionen, Nr. 10 (1992), S. 33-36

Gascia Ouzounian: "Embodied sound: Aural architectures and the body", in: Contemporary Music Review, Jg. 25, H. 1-2 (Feb.-April 2006), S. 69-79

Auswahldiskographie

Maryanne Amacher, "Living Sound, Patent Pending. Music for Sound-Joined Rooms Series" [1979], OHM: The early gurus of electronic music (Ellipsis Arts, CD3670, 2000, CD)

Maryanne Amacher, Sound Characters (New York: Tzadik, TZ 7043, 1999, CD)

Maryanne Amacher, Sound Characters 2 (New York: Tzadik, TZ 8055, 2008, CD)