"3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur"

Dreijährige Kunstaktion in der Berliner Zionskirche
von Carlo Inderhees und Christoph Nicolaus

Als der Komponist Carlo Inderhees und der Bildende Künstler Christoph Nicolaus im Januar 1997 die Aktion "3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur" begannen, schien es sich zunächst um eine, wenn auch ungewöhnliche und konzeptionell ambitionierte, aber eben doch um eine Konzertreihe zu handeln, die sie auf der Querempore der Zionskirche in Berlin-Mitte etablierten. In der Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 1999, so die Ankündigung, sollte an jedem Dienstag um 19.30 Uhr ein zehnminütiges Solo-Werk uraufgeführt werden. Etwa dreißig internationale Komponisten würden speziell für dieses Unternehmen Partituren anfertigen, die professionelle Musiker, die in der Berliner Neuen-Musik-Szene tätig sind, dann zur Aufführung brächten. Außerdem sollte die ebenfalls auf der Querempore eingerichtete Bodenskulptur von Christoph Nicolaus von Woche zu Woche eine kleine Veränderung erfahren. Inzwischen, da sich die Folge von Kurzperformances nach über zweieinhalb Jahren dem Ende neigt, ist evident, dass sie weit mehr ist als eine Veranstaltungsreihe. Carlo Inderhees etabliert hier ein Stück konzeptioneller Kunst, in dem der für künstlerische Aktionen gewaltige Zeitraum von drei Jahren artikuliert wird, und zwar durch Einzelereignisse mit dem Einsatzabstand von 168 Stunden, also einer Woche.

Die Komponisten, denen Inderhees die einzelnen Performances anvertraut, sind zumeist dem Umfeld des reduktiven Minimalismus zuzurechnen. Viele gehören, wie er selbst, der Gruppe Wandelweiser an: in Deutschland Antoine Beuger, Kunsu Shim, Klaus Lang und Burkhardt Schlothauer, in Chicago Michael Pisaro, die Schweizer Jürg Frey, Manfred Werder, Alfred Zimmerlin und Istvàn Zelenka. Insgesamt haben 31 Komponisten Werke für "3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur" geschaffen, in denen sie auf die Konzertsituation wie auf das Gesamtkonzept reagieren. Denn die Aufführungen finden nicht in einem neutralen Konzertsaal statt, sondern in einer neugotischen Kirche, die in der DDR dem Verfall preisgegeben war und heute längst noch nicht wiederhergestellt ist. Durch die zerbrochenen Fenster dringt die Klanglandschaft des städtischen Zionskirchplatzes herein, zu der, je nach Jahreszeit, auch Blätterrauschen und Vogelstimmen gehören. Die Zuhörer stehen mit dem Rücken zum im Winter dunklen Kirchenraum, den sie nur wage hinter sich ahnen, während sie dem Solisten zugewandt sind, der auf dem großen Podium leicht verloren wirkt. Hier eine konzentrierte Aufführungssituation zu schaffen, gehört zu den Herausforderungen der Musiker. Die Präsenz der Außenklänge und die Weite des Raumes in ihr Werk zu integrieren, zu denen der Komponisten.

Häufig erreichen lange Pausen oder kaum merklich veränderte Klänge die Sensibilisierung des Hörers für seine akustische wie räumliche Umgebung. Das Cello-Solo "raum – zeit" von Radu Malfatti etwa besteht aus elf Abschnitten von zwei bis 23 Sekunden Dauer, die von Pausen getrennt werden, die bis zu eine Minute und 41 Sekunden währen. In jedem Abschnitt erklingen ein bis acht Töne, die jeweils nur wenige Sechszehnteltöne auseinander liegen. Durchgehend herrscht eine Dynamik zwischen mezzo piano und mezzo forte. Eine größere Regelmäßigkeit erzielt Kunsu Shim in seinem Zyklus "perkussion / hören I-VI". Hier dauert jeder Abschnitt 15 Sekunden, bestehend aus der jeweils verschieden häufigen und verschieden raschen Wiederholung eines Ereignisses gefolgt von einer entsprechend unterschiedlich langen Pause. Auch hier liegen die Klänge im leisen Bereich. Shim beschreibt in seiner Partitur die musikalische Haltung, die vielen in der Zionskirche uraufgeführten Werken eigen ist: "Das ganze Spiel soll mit klanglicher Wärme, in Ruhe und Leichtigkeit verlaufen. Der Spieler soll eher die Haltung eines Hörenden als eines Spielenden einnehmen." Denn diese Musik stellt nichts dar, sie sucht nicht Mitteilung oder Expression. Manchmal scheint sogar die Individualität der Werke zu verschwinden. Man meint dann, eine ästhetische Erfahrung gemacht zu haben, vermag aber nicht, den Gesamteindruck von Konzentration und Sensibilität von dem spezifisch Musikalischen der Performance zu trennen.

Dazu tragen natürlich all jene Aspekte von "3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur" bei, die die Grenzen der traditionellen Kunstgattungen überwinden. Auf dem Holzboden der Querempore der Zionskirche liegen 96 parallel angeordnete, 30 bis 120 Zentimeter lange Bohrkerne aus blau, weiß und grau gemasertem Quarzphyllit, und zwar in zwei Gruppen: oben 42 Steine mit 120 Millimeter Durchmesser, etwa 80 Zentimeter darunter 54 Steine mit 70 Millimeter Durchmesser. Die Steine einer Gruppe berühren einander und bilden eine vielfältig, von der Farbe wie vom Relief her strukturierte Fläche. Diese Skulptur von Christoph Nicolaus bildet einen visuellen Ruhepol in dem drei Jahre dauernden und sich ständig änderndem Geschehen. Nicht nur wechseln von Woche zu Woche Musiker und Werke, über längere Zeiträume auch die Stadtklänge und jahreszeitbedingt Temperatur und Helligkeit im Kirchenraum. Was hier Verlässlichkeit bietet sind einzig die Skulptur und Ort und Zeit der Aufführungen. So meint man zunächst. Doch die Skulptur erfährt von Dienstag zu Dienstag eine kleine Veränderung. Auf einer Postkarte teilt der in München lebenden Nicolaus Carlo Inderhees die Positionen zweier Steine des gleichen Durchmessers mit, die zu vertauschen sind. Die Vielzahl und Ähnlichkeit der Steine macht es unmöglich, die Änderung zu bemerken. Aber wie so oft bei konzeptioneller Kunst bestimmt die intellektuelle Reflexion, nicht nur die sinnliche Rezeption das ästhetische Erlebnis.

Diese Beobachtung führt zum Kern dessen, was die dreijährige Kunstaktion in der Zionskirche ausmacht: Das Wissen um die gleichzeitige und gleichberechtigte Präsenz von Konstanz und Veränderung. Für regelmäßige Besucher der Kurz-Performances dringt die Zionskirche als Ort künstlerischer Erfahrung in den Alltag, zugleich die Folge "Musikalischer Ereignisse" als Gliederung von Lebenszeit ins Bewusstsein. Diese Aktion ist weit mehr als die Summe ihrer konstitutiven Einzelaspekte. Ihr gelingt nicht nur die Entgrenzung des Einzelkünste, sondern die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Welt überhaupt, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Während einer Aufführung verbinden sich Stadtgeräusche mit Instrumentalklängen, so wie die Zionskirche als Veranstaltungsraum verschmilzt mit der architektonischen Setzung im Stadtraum, die über den historisch rituellen Ort hinaus einen ästhetischen und sozialen markiert. Über die Zeit erscheint die Folge von Performances im Wochenabstand nicht mehr als im Nacheinander geordnete Ab-Folge, sondern als Ganzes, als Idee einer Folge. Ebenso die Skulptur: aus der Anordnung von Steinzylindern wird eine sich in steter Veränderung befindliche Anordnung und schließlich die Vorstellung von der Veränderung. Dass ein Kunstwerk sein physisches Material transzendiert, ist nicht ungewöhnlich. Besonders an "3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur" ist jedoch, dass dieses Verschwinden der sinnlichen Realität sich in der Zeit beobachten lässt. Im Konzept zu dieser Kunstaktion formulieren Inderhees und Nicolaus: "Ein Zeitraum wird konstituiert durch regelmäßige Veränderungen. Ein Ort wird konstituiert durch regelmäßige Veränderungen." Damit fallen Form und Inhalt aufs Schönste zusammen.

Volker Straebel 99


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leicht verändert unter dem Titel "3 Jahre – 156 Musikalische Ereignisse – eine Skulptur", in: Dissonanz #62 (November 1999)
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