He calls it music!

Zum Tode David Tudors

Auf der Suche nach einem Interpreten für die amerikanische Erstaufführung der 2. Klaviersonate von Pierre Boulez, die wegen ihres vertrackten seriellen Satzes als kaum spielbar galt, stieß John Cage eher zufällig im Tanz Studio von Jean Erdman auf David Tudor. Als Ballettbegleiter hatte Tudor sich bereits einen Namen gemacht, doch mit dem Boulez-Konzert im Dezember 1950 wurde der 24jährige schlagartig als Interpret zeitgenössischer Musik berühmt. Seine außergewöhnliche Virtuosität war nie leere technische Fertigkeit, sondern zielte stets auf die der intellektuellen Durchdringung des Werkes erwachsenen Darstellung. - Es heißt, Tudor habe im Zusammenhang mit der Einstudierung der Boulez'schen Klaviersonate Französisch gelernt, um Artaud lesen zu können, von dem der Komponist nachhaltig beeinflußt worden war.

In den folgenden Jahren wurden Tudors Recitals zum festen Bestandteil des New Yorker Konzertlebens. Klassiker der Moderne von beiden Seiten des Atlantik standen ebenso auf dem Programm wie Uraufführungen der jungen Komponisten um John Cage. Die stürmische Entwicklung dieser "New York School" wäre ohne ihren kongenialen Interpreten kaum denkbar gewesen. Als 1952 Cage die Grenze zum Happening und zur multimedialen Komposition überschritt, verzichtete Tudor erstmals während eines Konzertes auf das Klavierspiel: Für 4'33" saß er stumm an seinem Flügel und markierte die drei Sätze des Stückes durch Öffnen und Schließen des Deckels. "He calls it music!", schrie die Presse entsetzt.

Dies sollte nicht der einzige Uraufführungsskandal Tudors bleiben. Allein bis 1960 hob er annähernd 120 Kompositionen aus der Taufe, er "spielte" Radios, blies auf einer Spielzeugpfeife in Wasser und präparierte seinen Flügel mit Radiergummis und Wäscheklammern. Nach der ersten Deutschlandtournee, die er 1954 mit Cage unternahm, wurde er gern und regelmäßig gesehener Gast in Darmstadt und Donaueschingen, spielte die Europäer, brachte Werke von Karlheinz Stockhausen zur Uraufführung.

Die bekannteste Geschichte über Tudor hat John Cage erzählt: "Eines Tages aß David Tudor in Black Mountain College zu Mittag. Ein Student kam an seinen Tisch und begann, Fragen zu stellen. David Tudor fuhr fort, sein Lunch zu essen. Der Student stellte weiter Fragen. Schließlich sah David Tudor ihn an und sagte, 'wenn sie es nicht wissen, warum fragen sie dann?'"

Der Pianist Tudor hat nie gefragt. Der Notentext war ihm einziges verbindliches Ausgangmaterial für seine Aufführungen, deutende Hinweise der Komponisten ignorierte er. Earle Brown erklärte einmal im Gespräch, daß er und seine New Yorker Freunde ihre Partituren bei Tudor ablieferten, um dann bis zum Konzert nichts mehr von ihm hören. Die Uraufführung sei ein auch von ihnen gespannt erwartetes Ereignis gewesen, da Tudors Phantasie im Umgang mit indeterminierter Musik immer wieder zu unerwarteten Ergebnissen führte. Einige Stücke seien regelrecht darauf angelegt gewesen, Tudors Einfallsreichtum herauszufordern. So nimmt es nicht wunder, daß Sylvano Bussotti im Vorwort seiner Fünf Klavierstücke für David Tudor anmerkt, "für David Tudor" drücke nicht eine Widmung aus, sondern sei als Instrumentangabe zu verstehen.

Ende der 60er Jahre wandte sich Tudor fast ausschließlich der elektronischen Musik zu, wobei er mit seinem Tisch, auf dem er eine Vielzahl kleiner, oftmals selbst entworfener Schaltkreise und Gerätschaften versammelte, zum Pionier der Live-Elektronik wurde. Das Modell der modifizierenden Rückkopplung mit Überlagerung der resultierenden Zwischenstadien, begonnen mit Rain Forest (1968), hat er bis zu seinem jüngsten Projekt, Neural Network Plus (seit 1992), stetig weiterentwickelt. Tudors Arbeiten kulminieren oft in multimedialen Environments, an denen Bildende Künstler wie Robert Rauschenberg oder in jüngerer Zeit Jacqueline Monnier mitwirken. Außerdem entstanden viele Kompostionen für die Merce Cunningham Dance Company, deren musikalische Leitung Tudor nach Cages Tod 1992 übernahm.

Als im März 1995 die Dance Company im New Yorker City Center gastierte, kehrte Tudor in Cages Four3 zum Klavier zurück. Von den Folgen eines Schlaganfalles stark angegeriffen, setzte er, sich selbst neugierig lauschend, die vereinzelten Töne in den Raum. Einige Wochen später nahm ihm ein weiterer Schlaganfall das Augenlicht. Bei einem Besuch zeigte er sich dennoch nicht verbittert, sondern erzählte begeistert, daß er auch so mit der Arbeit im Studio fortfahren könne. Dies tat er bis vor wenigen Tagen. Am vergangenen Dienstag [13.8.1996] ist David Tudor in seinem Haus in Tomkins Cove, New York, siebzigjährig, gestorben.

Volker Straebel 8.96

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leicht verändert unter dem Titel "Soll das etwa Musik sein?" in: Süddeutsche Zeitung (München), 16.Aug. 1996
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