Linda Schwarz: Vom Verschwinden Bachs

Tintenfraß alter Bach-Manuskripte als Ausgangspunkt neuer Druckgraphik

Seit der vergangenen Jahrhundertwende sind die Grenzen der Künste unsicher geworden. Neben multimedialen Konzepten, die visuelle und akustische Elemente zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, und deren Geschichte weitaus älter ist, als der auf die Entwicklung der Computertechnologie reduzierte Blick vermuten läßt, entstanden sowohl Kompositionen, denen visuelle Vorstellungen zugrunde liegen, als auch Werke der Bildenden Kunst, die auf musikalische Prozesse bezugnehmen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei solche Kunstwerke, die auf struktureller Ebene eine Verbindung beider Medien erreichen. Nicht die lautmalerische Nacherzählung von Bildinhalten führt zur Überwindung der von der klassizistischen Ästhetik säuberlich getrennten Sparten der Kunst. Diese gelingt, sieht man von den Ausprägungen der Klangkunst in Klanginstallation oder Klangskulptur ab, nur auf der Ebene formaler Entsprechung und der konzeptionellen Übertragung der Verfahren ihrer Genese.

Das Werk Johann Sebastian Bachs war als Paradigma abendländischen Komponierens oft Gegenstand visueller Interpretation. Im Kreis der Bauhaus-Künstler entstanden etliche Bildwerke, die sich am Modell der Fuge allgemein oder konkret an einzelnen Sätzen Bachs orientieren. Dabei wurden Dauern- oder Tonhöhenproportionen in Längenverhältnisse übersetzt. Paul Klee gehörte zu den Ersten, die in diesem Zusammenhang auch Notenzeichen in ihre visuellen Arbeiten integrierten (Im Bachschen Stil, 1919/196). Damit war anders als bei den Kubisten, die nicht nur mit Gitarrenkorpus und Violinenschnecke, sondern auch mit Notenschlüssel und -linien auf Musik ganz allgemein anspielten, eine konkrete musikalisch-klangliche Assoziation in den Bildraum übertragen worden. Die Zeichen musikalischer Notation erhalten so visuelle Qualität, ohne ihren tradierten Verweischarakter auf Klingendes einzubüßen.

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Hier knüpft die Bildende Künstlerin Linda Schwarz mit ihren Bach-Serien an. Notenbilder betitelte sie 1993 ihren ersten Zyklus, der den Notentext der Prelude der ersten Cello-Suite G-Dur (BVW 1007) zum visuellen Gegenstand hat. Die Notenschrift wird Schwarz zum alleinigen bildnerischen Material, sämtliche Schattierungen und Überlagerungen der im komplizierten Xerox-Transferverfahren erstellten Unikatdrucke sind aus dieser abgeleitet. Dabei verliert die musikalische Notation ihre Aufgabe, Aufführungsvorschrift für Musiker zu sein, ohne die Eigenschaft einzubüßen, einen musikalischen Verlauf - mehr oder weniger genau - zu beschreiben. Die Analogie vom Oben/Unten der Notenschrift zum Hoch/Tief der bezeichneten Klänge bleibt erhalten. Ebenso der zeitliche Ordnung, die Abfolge der Töne gemäß der Leserichtung von links nach rechts.

Weniger streng sind die zu Büchern zusammengestellten postkartengroßen Studienblätter aus dieser Zeit, in die Schwarz die Notenzeichen der Prelude mit Notenkopf, -hals und Balkung übertrug und teilweise in mehreren Schichten überlagerte. Zeichnungen mit Silberstift auf grundiertem Papier stehen neben in verschiedenen Druckverfahren erstellten Blättern, die mit Schellack übermalt und Dammar-Firnis überzogen wurden, so daß eine charakteristische rot-braune Farbigkeit vorherrscht, die an den hölzernen Korpus des Cellos erinnern mag. Jedoch verzichtete Schwarz in anderen Miniaturen auch auf Notenhälse und -balken und notierte allein die Abfolge der Tonhöhen. Deren Einzelpunkte zeichnen genau die Töne der Prelude nach, doch lenken sie sofort das Augenmerk auf agogische Tongruppen, die verdeckte Zweistimmigkeit des Stückes und den langen Orgelpunkt am Ende. Formmerkmale der musikalischen Komposition werden gerade in der reduzierten Notation auch visuell erfahrbar, und die Vermutung liegt nahe, daß die die musikalische Wahrnehmung prägenden akustischen Gestaltbildungsprozesse ganz ähnlich im optischen Bereich Gültigkeit haben. So gruppieren wir Dank des Streaming-Effektes auch in einem eigentlich einstimmigen Stück Töne aus stark verschiedenen Tonhöhenbereichen zu zwei unterschiedlichen Stimmen und ordnen ebenso die Notenköpfe entsprechend ihrer vertikalen Orientierung zu zwei einfachen Verlaufsformen, statt uns eine zickzachförmige Verbindungslinie zu denken.

Die Notenfolge Bachs wird in den Arbeiten von Linda Schwarz nie zum Ornament reduziert. Vielmehr bieten diese Bilder neue Lesarten, gleichsam visuelle Interpretationen des Notentextes. Schwarz befragt die musikalische Partitur mit ihren Mitteln, denen der Bildenden Kunst, neu. Dem musikalisch kundigen Betrachter erschließen sich aus dem Studium dieser Arbeiten klangliche Assoziationen, ähnlich der Betrachtung einer Partitur, so daß die Bilder ihr Notenmaterial nicht etwa verstummen lassen, sondern musikalische Gestalten und Verläufe evozieren. Die Notenbilder von Linda Schwarz transzendieren ihr Medium hin zur Musik, sie verschmelzen aber nicht mit dieser. Denn wie ein realistisches Landschaftsbild von einem Baum reden mag, ohne selbst einer zu sein, so verweisen die Musik-Zyklen von Linda Schwarz auf die Vorstellung von einem Klangverlauf, den sie nicht selbst in sich tragen.

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In ihren jüngsten Arbeiten, die sie unter dem Titel Vom Verschwinden Bachs zusammenfaßte, richtet Linda Schwarz ihr Augenmerk auf den physischen Verfall des Manuskripts, in dem die Cello-Suiten uns überkommen sind. Das Konvolut in der Handschrift Anna Magdalena Bachs ist durch die unglückliche Kombination aus schlechtem Papier und eisenhaltiger Tinte in besonderer Weise dem Tintenfraß ausgesetzt. So schlagen einige Bereiche der jeweiligen Verso-Seiten deutlich durch, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Papier an den beschriebenen Stellen so brüchig wird, daß ganze Notenköpfe, energisch gezogene Balken oder Taktstriche herausfallen. Das Original, dem die Bildende Künstlerin größeren Stellenwert einräumt als der übliche Leser von Notenausgaben oder literarischen Texten, ist vom Verschwinden bedroht.

Aus der Beobachtung dieses Alterungsprozesses, dem die authentische Notation unterworfen ist, hat Schwarz nun ein konzeptionelles Verfahren für ihren künstlerischen Umgang mit den Notenzeichen abgeleitet. In der Serie B1007 - OP erscheinen die wegen des Tintenfraßes durchgeschlagenen Töne leicht rötlich unterlegt in den facsimilierten Notentext der ersten Cello-Suite integriert (nur die Prelude bleibt diesmal ausgespart, weil sie auf die Verso-Seite des Deckblattes geschrieben wurde, und so keine Notenzeichen im Tintenfraß auftreten). Schwarz ahmte den Schreibduktus Anna Magdalena Bachs genau nach, so daß die "Tintenfraßtöne" nun als Zusatzklänge unauffällig in den Tonverlauf drängen. Die Veränderung des Werkes durch die Veränderung des Mediums seiner Überlieferung wird entlarvt.

Paarig dazu angelegt rückt die ebenfalls achtteilige Serie B1007 - OTF die Tintenfraßzeichen in den Vordergrund. Als zart weiße Notation erscheint (notwendigerweise seitenverkehrt) der sich auflösende Teil des Manuskripts über dem Orientierung bietenden grau durchscheinenden vollständigen Notentext der Verso-Seite. So wird das im Original vom Verschwinden Bedrohte zum eigentlichen ästhetischen Gegenstand. Die Musik erscheint gefährdet, durch die Zufälligkeiten der Überlieferung fragmentiert. Darüber hinaus ist der Klangverlauf schwerlich mit der Komposition Bachs in Beziehung zu setzen, da er wegen der spiegelbildlichen Abbildung als durch die Notenzeilen gebrochener Krebs erscheint.

Diesen Auflösungsprozeß treibt Linda Schwarz noch weiter, indem sie den Tonhöhenverlauf der ersten Cello-Suite in isolierten Notenköpfen auf Transparentfolien überträgt. Werden diese gemäß des Tintenfraßmodells paarig übereinandergelegt, erscheint der Beschreibstoff des Manuskripts völlig aufgelöst und Recto- wie Verso-Seite eines jeden Blattes sind gleichzeitig zu lesen (B1007 - SOTFP). Die so entstehende Reihe von Tonpunkten hat Schwarz als zweistimmige Komposition interpretiert und nach primär visuellen Gesichtspunkten Achtel und Sechzehntel ausgebalgt. Der Schreibduktus Anna Magdalena Bachs täuscht wieder ein authentisches Werk vor, und würden sich nicht die Notenlinien von Vorder- und Rückseite überlagern und die Versetzungszeichen fehlen, man könnte in der Tat annehmen, mit einer zweistimmigen Invention konfrontiert so sein. Statt dessen handelt es sich um das Ergebnis streng konzeptioneller künstlerischer Arbeit, die sich nicht mehr kümmert um die Grenzen zwischen visueller und akustischer Kunst. Aus dem Zerfall der Notation eines Kunstwerkes entwickelt Linda Schwarz ein neues - eines, das den Stachel der Vergänglichkeit auf der strukturellen Ebene in sich birgt.

Volker Straebel 98

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Der Text entstand im Zusammenhang mit der Ausstellung Notenbilder: Vom Verschwinden Bachs. Die Graphikerin Linda Schwarz im Johann-Sebastian-Bach-Museum, Leipzig 1998. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Bach-Archivs Leipzig.
leicht verändert unter dem Titel "Tintenfraß. Linda Schwarz: Vom Verschwinden Bachs" in: Positionen, Beiträge zur Neuen Musik, H. 36 (August 1998), S. 39-41
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission

Biographische Anmerkungen

Die in Berlin und Würzburg lebende und in Saarbrücken lehrende Künstlerin Linda Schwarz (1963) beschäftigt sich seit etlichen Jahren in ihren Drucken und Zeichnungen mit der bildnerischen Anverwandlung literarischer wie musikalischer Notationen.

Einzelausstellungen (Auswahl)

1991 Studio Arts Gallery, Minneapolis, MN, USA

1992 Galerie Burg, Musberg

1993 Ausstellung der Bach-Zyklen im Zusammenhang mit der Aufführung des Gesamtwerkes für Cello von J. S. Bach durch YoYo Ma im Rahmen der 43. Berliner Festspiele, Kammermusiksaal der Philharmonie, Berlin

1995 Galerie Burg, Musberg

1996 Städtische Galerie, Filderhalle, Leinfelden-Echterdingen (Katalog)

1998 Johann-Sebastian-Bach-Museum, Leipzig



Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland. Vertreten in öffentlichen und privaten Sammlungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Japan und den USA.