Musik gibt es nicht. Musik soll entstehen im Kopf des Zuschauers / Zuhörers

Dieter Schnebels Instrumentales Theater

Als der Komponist Dieter Schnebel 1966 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik einen Vortrag über "Sichtbare Musik" (2) hielt, konnte er sich eines Publikums gewiss sein, dessen Begriff davon, was Musik eigentlich sei, sich nicht auf das Akustische beschränkte. Die Diskussionen auf diesen jährlichen Treffen der europäischen Nachkriegsavantgarde waren lange geprägt gewesen von den mathematischen und physikalischen Entwürfen, die die serielle und Elektronische Musik hervorgebracht hatten. Diesen lag die Idee zugrunde, alle klanglichen und zeitlichen Aspekte eines Musikwerkes in parametrisierbaren Größen zu beschreiben und sie in Anlehnung an die Zwölftonkomposition mittels Zahlenreihen kompositorisch zu bestimmen. Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen wurden zu Protagonisten einer Komponistengeneration, die neben Tonhöhe, Dauer und Lautstärke bald auch komplexere musikalische Zusammenhänge wie Klangfarbe, Ereignisdichte oder Raumdisposition seriell organisierte.

Aus der Rückschau wirken – anders als in ihrer Entstehungszeit – die frühen seriellen Kompositionen wie beispielsweise Karlheinz Stockhausens "Zeitmaße" für Blasquintett von 1956 weniger skandalös und kaum ausschließlich mathematisch determiniert. Die musikalische Erfahrung dürfte heute die kompositionstechnische Würdigung der hier bis zu fünf gleichzeitig ablaufenden Zeitschichten überwiegen. Dennoch ist offensichtlich, dass sich die ästhetische Rezeption nicht in der auditiven Perzeption erschöpft. Musik ist nicht allein, was klingt, sie birgt stets die Haltung ihres Autors im kompositionstheoretischen Diskurs seiner Zeit. Dieter Schnebel betonte in seinem Darmstädter Vortrag diesen Aspekten gegenüber das Sichtbare der Musik. Musik ist ihm nicht allein was klingt, auch wie sie erscheint, sei es als grafische, visuelle Notation oder szenische Aktion der Aufführung:

"Inzwischen habe ich ja viele Theater-Erfahrungen und sehe immer alles, was auf einer Bühne geschieht, als theatralisches Geschehen. Und [ich] amüsiere mich immer in Kammerkonzerten wenn Musiker auftreten, wie die auf die Bühne latschen. Musiker können nicht gehen."

Besonders die Ränder einer jeden, gerade der vom Konzertritual geprägten traditionellen Musikaufführung, haben szenischen Charakter: Auftreten des Orchesters. Auftreten des Konzertmeisters. Stimmen. Auftreten von Dirigent und Solisten. Pausen zwischen den Sätzen. Finale. Verbeugung. Außerdem Applaus, Lichtwechsel, Nachstimmen, Schweißtuch, und so weiter. So erinnert sich Schnebel:

"Ich habe mal den Rostropovich erlebt, und das war eine fantastische szenische Performance. Der hat die Cello-Sonate von Strauss gespielt, was auch so ein Stück ist, das ganz aus dem Vollen schöpft. Und der Rostropovich, der hat so einen schrägen Stachel, also der hat das Cello fast liegend vor sich und einen ganz langen Stachel. Der kam da mit dem Pianisten auf die Bühne gestürmt, der Pianist hat sich hingesetzt und er hat den Stachel in die Erde gerammt und in den Beifall, den Begrüßungsbeifall des Publikums hinein losgelegt. Das war so ein starkes theatralisches Erlebnis. Und wie er sich dann auch selbst aufgeführt hat, das war wunderbar."

Dass ein Interpret, wie es Schnebel formuliert, "sich selbst aufführt", folgt der klassisch-romantischen identifizierenden Musizierhaltung. Der Virtuose neigt zur "Darstellung" eines Werkes, dessen emotionalen Gehalt er im Moment der Aufführung nicht transportiert, sondern teilt, oder doch zu teilen behauptet. Dem Interpretentypus des Musikdarstellers sind hierfür theatralische Verfahren dienlich. Ob er verinnerlicht die Augen schließt, sich in leisen Stellen vorsichtig duckt oder kraftvoll und mit großer Geste energetische Passagen exekutiert – stets spielt dieser Interpret nicht nur sein Instrument, sondern auch sein Spielen selbst. Igor Strawinsky muss diese Haltung der Musik-Darstellung vorausgesetzt haben, als er notierte:

"Ich habe immer einen Abscheu davor gehabt, Musik mit geschlossenen Augen zu hören, also ohne dass das Auge aktiv teilnimmt. Wenn man Musik in ihrem vollen Umfange begreifen will, ist es notwendig, auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers zu sehen, durch den sie hervorgebracht wird."(3)

Doch auch jenseits der Musik-Darstellung, im Bereich der bloßen Umsetzung einer Aufführungsvorschrift, birgt die Musik visuelle Elemente, so Schnebel:

"Es macht mir heute noch großes Vergnügen, wenn ich eine Mahler-Symphonie sehe, beispielsweise die sechste. Wenn es dann im Finale auf den ersten Hammerschlag zu geht, dann schaue ich immer schon mal in die Ecke zum Schlagzeuger. Wenn der sich dann bückt und wenn es gut inszeniert ist, wird der Schlag mit großer Geste ausgeführt. [...] Das sind so wunderbare Spannungen. Ja, die Musik ist schon schönes Theater."

Eine Musikaufführung als Theater zu deuten, ist die Interpretation eines Rezipienten, der ihre visuellen Aspekte nicht als der Klangproduktion bloß akzidentiell versteht, sondern ihnen ästhetischen Wert beimisst. Diese Verschiebung in der Musikrezeption ergab sich in den 1950er Jahren aus unterschiedlichen Erfahrungen heraus. Am bekanntesten ist das zum Theater geweitete Musikverständnis von John Cage, der bereits in den 1940er Jahren begonnen hatte, in seinen Partituren nicht mehr die Klänge zu notieren, die Musiker in einem Konzert spielen sollten, sondern die Aktionen, die diese auszuführen hatten, um – in ihrem Ergebnis nicht genau festgelegte – Klänge zu erzeugen. Komponiert wurden nicht mehr Klänge, sondern Tätigkeiten.(4)

Wo diese Aktionen stark von der gewohnten Instrumentalbehandlung abweichen, rücken sie in der Wahrnehmung des Konzertbesuchers in den Vordergrund und lassen das akustische Geschehen als weniger bedeutsam erscheinen. Der amerikanische Komponist Virgil Thomson beschrieb dieses Phänomen im Zusammenhang mit einer Aufführung von John Cages "Concert for Piano and Orchestra" 1958:

"Der Anblick von David Tudor, an den Pedalen seines Flügels herumkriechend um von unten an den Resonanzboden zu klopfen, war ebenfalls unterhaltend zu beobachten, auch wenn das Klopfen nicht laut genug war, um lustig zu sein. Diese visuelle Show fügte dem Ganzen so viel hinzu, dass, als ich Studenten die Aufnahme des Stückes vorspielte (sie war im Konzertsaal bei Cages 25jährigen Jubiläumskonzert gemacht worden), wir alle enttäuscht waren. Ich denke, klanglich war es ein schwaches und inkonsequentes Stück."(5)

Auch bei der simultanen Uraufführung von John Cages Time-Length-Pieces für Pianisten in der Fassung "12 Minuten 55,6078 Sekunden" bei den Donaueschinger Musiktagen 1954 scheint das Publikum dem visuellen Geschehen mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben als dem akustischen Resultat. John Cage und David Tudor bedienten im Rahmen einer sonntäglichen Matinee in der damals auch in der Neuen Musik noch anzutreffenden klassischen Konzertkleidung zwei Flügel an der Tastatur wie an den Saiten selbst, wobei sie mittels verschiedener Pfeifen, Spielzeug- und Perkussionsinstrumenten die in der Partitur vorgeschriebenen zusätzlichen Geräusche erzeugten. Später erklärte Cage auf die Frage, ob ein Konzert stets eine theatralische Aktivität darstelle:

"Ja, selbst ein konventionelles Stück, das von einem konventionellen Symphonieorchester gespielt wird: der Hornist zum Beispiel entleert von zu Zeit zu Zeit sein Horn vom Speichel. Und dies erregt regelmäßig meine Aufmerksamkeit stärker als die Melodien und Harmonien und so weiter." (7)

John Cages Integration des Theatralischen in sein kompositorisches Denken vollzog sich auf zwei Ebenen: in der Verwendung szenisch spektakulärer Aktionen zur Klangerzeugung und in der Verwendung von Zahlenreihen zur Bestimmung der Parameter beliebiger Aktivitäten, nicht allein klanglicher (8). Dieter Schnebel verfolgte einen anderen Weg:

"Ich hatte, quasi als Opus 1, 1953/54 "Fünf Stücke für Streichquartett" gemacht, und nahm bei diesen Stücken eine ziemlich komplizierte Zeitorganisation vor. Das war in der Hochzeit der Seriellen Musik. Ich hatte nun die Takte seriell strukturiert. Mit Umkehrungen, also 5/8-Takt, 3/4-Takt wurde dann 8/5-Takt, 4/3-Takt. Und die sehr sparsam, webernianisch gesetzten Klänge, habe ich kontrapunktisch in diese Taktverläufe eingefügt. Wenn das aber gespielt wird, bekommt der Hörer von diesen komplizierten Taktverläufen nichts mit. So dachte ich, ich nehme einen Dirigenten, der nicht eigentlich dirigiert, sondern nur die Takte schlägt, so dass man diese Taktverläufe sehen kann. Das war eine Idee von 1953, 54, 55, die dann aber weiter in mir herumgegeistert ist. 1960 hatte ich dann die Idee eines Stückes für einen Dirigenten und einen Instrumentalisten."

In dieser "visible music I" dient eine grafische Notation als Vorlage für den Dirigenten, durch seine Gesten beim Instrumentalisten musikalische Verläufe zu evozieren. Auf auf- und absteigenden Linien aufgereihte Punkte unterschiedlicher Größe, Punkt-Felder und ‑Ballungen mit unterschiedlicher Bewegungsrichtung stehen als musikalische Grafik für ein klangliches Geschehen, das der Dirigent imaginiert, ehe er es dem Musiker visuell mitzuteilen sucht.

Das Folgestück, "visible music II. Nostalgie. Solo für einen Dirigenten", ebenfalls von 1960, geht einen Schritt weiter. Hier agiert der Dirigent allein auf der Bühne, dem Publikum als imaginärem Ensemble zugewandt. Von wenigen stimmlichen Äußerungen des Interpreten abgesehen bleibt das rund zwanzig minütige Stück stumm. Die wenige Sekunden kurzen, ad libitum einzuspielenden Tonaufnahmen traditionellen Orchester-Repertoires dürfen diesen Charakter nicht mindern, wie Schnebel in der Partitur vermerkt:

"Der stumme Charakter des Stücks darf durch die zugespielte Musik keinesfalls gefährdet werden; sie sollte sich in die hörbare Musik der akustischen Äußerungen des Dirigenten einfügen und ihre zufällige Art annehmen. Deutlicher sollte Musik aus der visible music der Gesten kommen, möchte solche entsprechend der traditionellen Vortragsbezeichnungen beschworen werden. Der Titel Nostalgie meint Sehnsucht nach etwas, was man nicht mehr hat: auf der Suche nach der verlorenen Musik – und ist so verstanden Vortragsbezeichnung für das Stück insgesamt."(9)

Der Herausforderung, räumlich organisierte Zeitverläufe zu notieren, begegnet Dieter Schnebel in seiner "visible music II" mit einer topografischen Partitur. Hier werden neben Reihenfolge und Charakter auch die Orte der einzelnen Gesten festgelegt. Jedes Partiturblatt verfügt über ein Linien-Raster, das die horizontale Orientierung zwischen dem Extrem der nach links und rechts ausgestreckten Arme und die vertikale Orientierung von Knie- über Hüft‑, Kinn‑ hin zu etwas über Kopfhöhe erleichtert. Ein weiterer Parameter des Ortes ist die Bewegungstiefe, die Differenzierung der Geste zwischen "nahe am Körper" und "weit nach vorn ausgreifend".

In der "Sichtbaren Musik" der Dirigentengesten werden die Bewegungen des Akteurs mit musikalischen Termini beschrieben. Aus der Perspektive des Rezipienten entstehen dabei laut Schnebel fünf verschiedene dirigentische Verhaltensweisen:

"1. Das ziemlich undirigentische reine Zeichnen von Musik – von Höhen, Zeitwerten, Intensitäten, Klängen – durch meist impulsartige Bewegungen: quasi Spiel in die Luft.

2. Ein Zeichnen von Musik, das zu Dirigieren geht – wo also in das reine Zeichnen von Musik Gesten dirigierenden Charakters einzuflechten sind (wie Abwinken, Einsatzgeben, Herausholen, Dämpfen, etc.).

3. Von Musik inspirierte Dirigierbewegungen – zum Beispiel sich in einem Walzer wiegend dirigieren, die Ruhe eines Adagios ausstrahlen.

4. Dirigierbewegungen von suggestivem, ja autoritärem Charakter.

5. Dirigieren als Selbstgenuss – fantastische Bewegungen, dabei die Augen schließen."(10)

Eine stumme, allein sichtbare Musik wie Dieter Schnebels "Nostalgie" für einen Dirigenten verweigert sich naturgemäß der Radioübertragung. Hier können nur einzelne Aktionen aus der Partitur zitiert und beschrieben werden:

Nummer 2, leggiero ("leicht, locker") – weit links vom Körper, etwa auf Hüfthöhe – "Leichtes Staccato der Finger: wie in die Luft Klavier spielen (unmittelbar vorm Körper – schiefe Haltung). Bewegungstiefe gering, Blick auf die Finger." – linke und rechte Hand alternierend, jeweils zwei bis vier Fingerbewegungen pro Hand. Schluss mit weit aufsteigendem Lauf. Dabei Bewegung von links außen um ein Zwölftel der horizontalen Bewegungsweite hin zur Körpermitte "so rasch wie möglich".

Nummer 17f, adagio flebile ("klagendes Adagio") – "Die gesamte Partie 17 auswendig spielen; teils mit geschlossenen Augen; teils zum Himmel oder sonst in weite Ferne blickend." – Etwa auf Gesichtshöhe wird mit zwei Fingern einer Hand eine leicht gewellte Linie von der Körpermitte aus nach halb Rechts gezogen. Die Linie setzt sich in kleinen Punkten leicht aufsteigend bis vier Sechstel horizontaler Bewegungsweite rechts fort, verharrt kurz mit einer Setzung aller fünf Finger der Hand und fährt mit der so geöffneten Hand steil nach weit oben. Die Linie fällt fast senkrecht auf etwa zwei Meter zurück und fährt in weitem Bogen bis zur zuvor erreichten Höhe nach links, etwas weiter als Mitte rechts. – Der Dirigent bricht ab und geht zum Dirigier-Podium. Hier folgt:

Nummer 17g, vivace fatastico ("lebhaft, fantastisch") – weit rechts bis zu einem Sechstel der horizontalen Bewegungsweite zur Körpermitte, auf Gesichtshöhe bis zum senkrecht nach oben gestreckten Arm – "Gefuchtel (hoch aufgereckt auf dem Podium stehen!)" – Gespreizte und geschlossene Hände in wechselnden Winkeln, Stellungen und Positionen. Die rasche und wirre Bewegung mündet in die hoch erhobene linke Hand, die ein V zwischen zusammengelegten Fingern und abgespreiztem Daumen bildet.

Die verbale Übersetzung einiger Aktionen von "Nostalgie" macht die stumme, gestische Musik unversehens zur Musik verbaler Imagination. Dies rückt sie in die Nähe einer anderen sichtbaren Musik, "ki-no", entstanden 1962 bis 67, und ihrer Buch-Fassung "MO-NO", Musik zum Lesen, von 1969. Schnebel berichtet in diesem Zusammenhang:

"Da ist ein anderes Stück noch von mir gemacht worden, nämlich "ki-no. eine Nachtmusik für Projektoren und Hörer", wo nur Diapositive von Noten und Bilder von Schrift gezeigt werden, die Anleitungen zum Hören bringen, aber Musik gibt es nicht. Die Musik soll entstehen im Kopf des Zuschauers / Zuhörers. Es ist wie "Nostalgie" eine stille Musik. Also, Notenbilder haben ja was sehr Suggestives, und in den sechziger Jahren war mit-inauguriert durch Cage musikalische Grafik eine Zeitlang etwas Wichtiges. Ich habe immer schon als Kind und Jugendlicher gern gezeichnet und habe seit dieser grafischen Partitur von "visible music" auch immer wieder auf eine solche Weise Noten skizziert. Zuerst hatte ich nur die Idee: ein Stück, wo die Noten projiziert und dann von Musikern gespielt werden. Dann nahmen aber diese Noten immer fantastischere Formen an und brav seriell denkend hatte ich dann skaliert: "normale Noten" bis "völlig abstrakte, fantastische Noten". Statt Musik nun mit Noten zu symbolisieren, könnte man sie auch beschreiben."

Dies unternimmt Dieter Schnebel in "MO‑NO", der Musik zum Lesen:

"Monoton rollt ferner Verkehr, grollender Donner, dröhnen Panzer. Vorhin Geraun in diesem Zimmer. Und drüben in jener Kirche Gemurmel – Hall des Sakralen Raums. Zuhause läuft endlos Wasser, zischend und gurgelnd. Stille und trockener Schall (Klinikatmosphäre). Stahl dringt lautlos ins Fleisch. Raschelnde Blätter vorm Fenster, jenseits des Bachs zirpen Grillen. Das gleichförmige Rauschen des Schiffs, das spärlich den Ozean durchfurcht."

"Und nun hören Sie sich selbst; das, was Sie an Akustischem erzeugen: Hier und da Geräusche in ihrem Mund. Sie schlucken, bewegen die Zunge. Das regelmäßige Auf und Ab Ihres Atems. Adagio. Oder hielten Sie einen Augenblick den Atem an? Vielleicht – eines Seufzers Aufschnaufen. Spannungen, Entspannungen. Vernehmen Sie nun das Pulsieren Ihres Herzens. Pocht es nun schneller? – – Langsamer?"(11)

Schnebel zeigt sich hier von Cage beeinflusst:

"In einem seiner Texte kommt er ja auf die Situation zu sprechen, dass bei einem Stück von Christian Wolff die Fenster offen standen und man in New York von draußen Autos und Schiffssirenen und alles mögliche hörte und jemand im Saal meinte, man soll doch die Fenster schließen. Christian Wolff hat dann gesagt, die Klänge von draußen würden die Musik keineswegs unterbrechen. Es gab damals, es war ja Nachkriegszeit, kaum stille Konzertsäle, da hat man immer irgendwas von draußen gehört, und ich dachte, das ist doch eigentlich auch ganz schön, wenn so ein Auto draußen vorbei fährt. Und dann habe ich so einen Text geschrieben:

Eine Stille. Wo nichts mehr von draußen hereintönt – vielleicht Ruhe riesiger Weite – über den Wolken... Ozean... Und dann im abstrakten Pianissimo solcher Stille der fließenden Zeit gewahr werden: Musik jenseits des Klangs."(12)

"ki-no" und "MO-NO" sind nur insoweit sichtbare Musik als sie stumme Musik sind, die zu ihrer Vermittlung des Sichtbaren bedarf. Beide Stücke enthalten mehrere Material-Schichten: verbale Sensibilisierungen für die aktuelle akustische Situation, verbale Anleitungen zur akustischen Imagination, verbale Beschreibungen von Klängen, Geräuschen und akustischen Strukturen oder Entwicklungen, Titel musikalischer Werke, musikalische Grafik unterschiedlicher Abstraktion, hinweisende oder unvollständige Notenbilder, unmögliche: fantastische musikalische Notationen, literarische Zitate mit akustischen Implikationen und schließlich Reproduktionen von einem Gemälde Casper David Friedrichs bis zu einer Fotografie von Holocaust-Opfern.

Während in dem Buch "MO-NO" der Leser frei ist, die Zeit zu bestimmen, die er bei einem visuellen Element verweilt, und sogar durch Hin- und Her-Blättern die Reihenfolge der Texte und Grafiken aufzubrechen vermag, ist dem Rezipienten des multidimensionalen Dia- und Film-Environments "ki-no" Abfolge und mögliche Betrachtungsdauer der einzelnen Elemente vorgegeben. Hier kann, wie schon in "Nostalgie", ad libitum auch noch Akustisches hinzutreten: Assoziative, irritierende oder ironische Kommentare eines Sprechers, Cage-Zitate und ein Mehrkanal-Tonband mit leisen Aufnahmen von Körpergeräuschen, Stimmen und Wettererscheinungen.

In Schnebels Werken erscheint das Phänomen der "Sichtbaren Musik" kaum je als reine Form, das Visuelle ist nur selten alleiniger und strukturell ausgezeichneter Gegenstand ästhetischer Gestaltung. Oft tritt er als szenischer Aspekt gleichberechtigt zum Akustischen, verschmilzt mit diesem in Musiktheater oder Musikperformance oder ist eher Verfahren denn Gegenstand, etwa bei der Vergegenwärtigung imaginativer Elemente in "ki-no" oder bei der Bewegung von Musikern in Stücken der Raum-Musik. Ein Beispiel hierfür ist die serielle Komposition "raum–zeit y" für eine unbestimmte Anzahl von drehbaren Schallquellen von 1959, ausgearbeitet 1992/93 als Oktett:

"Da hatte ich die Idee: Ich nehme eine bestimmte Reihe, und die wird sowohl auf die Tonhöhen, auf die Zeitdauern, auf den Formverlauf und auf die räumliche Gestaltung appliziert. Die Ausführenden werden nach dem Verlauf der Reihe im Aufführungsraum auf Drehstühlen mit Schallspiegeln postiert. Das gab höllisch viele Probleme. Wenn die Spieler sich drehten, konnten sie die Noten nicht lesen. Und dann hatten sie diese Wände um sich herum, die waren parabolisch und sie saßen im Brennpunkt."

Die visuelle Aktion in "raum–zeit y", dass die Musiker der Schubert'schen Oktett-Besetzung auf Drehstühlen postiert sind und nach Partitur auf 45 Grad genau um die eigene Achse rotieren, ist also allein der seriellen Raumdisposition geschuldet. Die zeitliche Koordination übernimmt ein stationärer Dirigent mittels perkussiver Signale. In Abschnitt C ist nahezu jeder Toneinsatz von einer Drehung oder neuen Raumorientierung des Musikers begleitet.

Die eingangs am Beispiel Cages erläuterte Vorstellung einer Sichtbaren Musik, deren Klingen aus einer visuellen Aktion resultiert, griff Dieter Schnebel in seiner Prozesskomposition "Maulwerke" für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte wieder auf. Dass die Klangerzeugung hier oft im Inneren des Körpers stattfindet und so dem Zuschauer verborgen bleibt, ändert nichts an der formalen Anlage des Stückes als von den Bewegungen der Ausführenden bestimmt. Schnebel beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen:

"1968 bis 1974 habe ich an den Maulwerken gearbeitet. Die Idee war, Bewegungen zu komponieren, nicht Klänge, sondern die Bewegungen der Artikulationsorgane, also der Atemorgane, des Kehlkopfs, Mund, Lippen, Zunge. Das habe ich wieder prozessmässig auskomponiert. Und als die Maulwerke fertig waren, war der nächste Schritt, diesen Gedanken einer direkten körperlichen Darstellung nicht mehr über den Umweg von Noten, auf den ganzen Körper auszudehnen. So ist dann 1980 KörperSprache entstanden. Ein Stück, in dem ich alle körperlichen Bewegungen in Betracht gezogen habe und diese in szenische Verläufe umgesetzt habe."

Die "Maulwerke" enthalten eine Materialsammlung von Körperaktionen, die für eine Aufführung in eine Abfolge gebracht, in verschiedenen Ensembleformationen kombiniert und schließlich mittels akustischer und optischer Reproduktionsmittel wie Verstärkung und Video-Projektion zu einem theatralischen Geschehen verbunden werden.

Es sind dies im Einzelnen die "Atemzüge" für Zwerchfell, Brustkorb, Lungen und Luftröhre, "Kehlkopfspannungen und Gurgelrollen" für Stimmlippen, Stimmmuskeln und Stellknorpel, die "Mundstücke" für den Unterkiefer mit Zungenboden, Mund und Wangen und "Zungenschläge und Lippenspiel" für Lippen, Zunge, Zähne, Gaumen, Gaumensegel und Wangen.

In Dieter Schnebels Instrumentalem Theater verschwimmen die Grenzen zwischen Musiker und Schauspieler, zwischen Instrument und Akteur. Beziehen sich, wie von der Organkomposition Körpersprache von 1980 an, die komponierten Bewegungen nicht mehr auf einen Gegenstand außerhalb des Körpers wie ein Musikinstrument etwa, sondern auf den Körper selbst, wird der Leib des Interpreten zum bewegten Beweger, ist er gleichzeitig Subjekt wie Objekt seiner Handlungen. In ihrer Konsequenz nur dem Tanz vergleichbar, entsteht für den Interpreten eine Situation totalen Theaters, wie sie Barbara Thun, ehemals Mitglied des von Dieter Schnebel gegründeten Spezial-Ensembles Maulwerker, beschreibt:

"Wenn ich Schnebel einstudiere und aufführe komme ich in die Situation, dass wirklich beides beides ist, der Ton ist Theater und das Sichtbare, meine Handlung, meine Körperaktion ist plötzlich Musik. Als ich angefangen habe Schnebel aufzuführen, da kam ich wirklich in die Situation, dass ich begann, jede kleinste Bewegung, die ich als Musiker machte, zu kontrollieren und ins Bewusstsein zu nehmen. Ich war als Musiker sozusagen totale Bühnenfigur, aber nicht im Sinne eines Schauspielers, sondern im Sinne eines Instrumentes."(13)

Die Partitur von Körpersprache verzeichnet, ähnlich wie die der Maulwerke, Materialbereiche, deren Einzelereignisse sich zu einem "musikalischen, ja musikdramatischen Prozess mit homophonen, heterophonen, polyphonen, dialektisch sukzessiven oder polyphon simultanen Passagen für drei bis neun Ausführende verbinden lassen."(14)

Waren es in den Maulwerken psychoanalytische Konnotationen des elementaren vor-sprachlichen Ausdrucks, die Schnebel bei der Interpretation berücksichtigt wissen wollte, so sind es hier Grundformen körpersprachlicher Expression, die bei der Aufführung unwillkürlich erprobt werden:

"Die Sprache des Körpers. Körper-Sprache ist eine Komposition der Körperbewegungen – der Bewegungen des Kopfes, der Arme, des Rumpfs, der Beine, der einzelnen Bewegungen der Augen, des Mundes, der Finger, der Schultern, der Hüften, der Zehen, und so fort, wobei diese Bewegungen vielfältig miteinander verbunden werden können. In all diesen Bewegungen drücken wir uns bewusst oder unbewusst aus, beginnen die einzelnen Glieder oder der Körper als Ganzes zu sprechen, führen Selbstgespräche, wenden uns an Gegenstände, an Menschen, überhaupt an die Umwelt, und es kommt zu vielerlei Formen von Kommunikation. Im theatralischen Prozess Körper-Sprache spielen die Körper der Ausführenden die mannigfaltigen Möglichkeiten der eigenen Sprache durch und sprachlicher Ausdruck wird selber körperlich: Körper-Sprache. Als eben dieses enthält die Organkomposition eine Art Naturgeschichte und die Historie der menschlichen Bewegungen."(15)

Die drei Material-Bereiche der Körpersprache sind Übungen, in denen einfache, fantasievolle Bewegungen und Gesten geschult werden, Geschichten, in denen diese sich zu organischen und psychischen Verläufen fügen, und schließlich Phasen relativer Ruhe und Inaktivität, das Nicht-Tun, gegliedert in Ruhepunkte und Erstarrungszonen.

Michael Hirsch, langjähriges Mitglied der Maulwerker, charakterisiert Körpersprache folgendermaßen:

"Also, es wird eigentlich Theater gemacht mit musikalischen Mitteln, nicht Musik mit theatralen. Das finde ich bei Schnebel eigentlich immer ganz interessant, dass er die Ausdruckspotentiale von Theater und Musik praktisch gegeneinander austauscht."(16)

Wie zuvor Nostalgie für einen Dirigenten verweigert sich auch die stumme Sichtbare Musik Körpersprache der radiophonen Vermittlung. Besonders schwer wiegt, dass hier bis zu neun Interpreten simultan agieren und die Gleichzeitigkeit visueller Polyphonie nur im Nacheinander der sprachlichen Beschreibung zu fassen wäre. Als Versuch einer Annäherung seien die Beschreibungen der fünf Teile der Geschichte Be‑greifen aus der Partitur zitiert:

"Be-greifen – moderato amabile, für einen Ausführenden. Entspanntes Sitzen (zum Boden gerichtet). Wache Aufmerksamkeit zu einem unmittelbar nahen (greifbaren) Bereich, aber unwillkürliches und reaktives Verhalten: sich von inneren Regungen oder äußeren Reizen leiten lassen. Zugreifende Bewegung jeweils einer Hand – hauptsächlich Fingerbewegungen ‑; auf verschiedene Gegenstände gerichtet: Ergreifen, Ertasten, Erfahren; Tempo zart – leicht bewegt. Begleitende Bewegungen des Kopfs, Rumpfs und der ausgestreckten Beine."

"Be-greifen – allegretto con espressione, für einen Ausführenden. Gespannte Sitzhaltung. Auf die nächste Umgebung ausgerichtet sein. Innere Anspannung, die sich in leicht bis stark zugreifenden (aggressiven) Bewegungen der Hände äußert – unwillkürliches Verhalten, das sich von äußeren Reizen leiten lässt. Ziemlich heftige Bewegungen beider Hände – Aktionen an Gegenständen: auseinandernehmen, zerren, reißen, etc."

"Be-greifen – presto fantastico, für einen Ausführenden. Lockere und bewegliche Sitzhaltung (Hocke). Gelöster innerer Zustand, aber mit Aufmerksamkeit auf die nähere Umgebung; Erzeugung von ebenso gelösten quasi spielerischen Bewegungen. Deutliche und artikulierte Bewegungen beider Hände – und der Finger; begleitende und führende Bewegungen der Arme, hauptsächlich der Unterarme. Auf, an und mit Gegenständen quasi spielen."

"Be-greifen – allegro con brio, für einen bis vier Ausführende. Knien – Stehen. Auf den ganzen Umkreis der nahen Umgebung ausgerichtet sein. Leicht gespannter innerer Zustand, der sich in gewollten oder gezielten Bewegungen äußert. Verschiedenartige und deutlich gestaltete Bewegungen einer oder beider Hände mit begleitenden Bewegungen der Arme auf, an und mit Gegenständen – auch ohne solch erfahrendes Arbeiten, spielerisches Bearbeiten."

"Be-greifen / Ver-drehen – moderato essatto, für vier bis sechs Ausführende. Gebücktes Knien – gestrecktes Stehen. Auf die ganze Umgebung ausgerichtet sein. Stark angespannter innerer Zustand. Mühe oder Zwang, etwas zu bewältigen – was sich in entsprechend angestrengter Gestik äußert. Deutlich artikulierte Bewegungen einer oder beider Hände oder Arme von meist repetitivem Charakter auf oder an Flächen (zum Beispiel Boden oder Wand) – mühevolle Arbeit."(17)

Die akustisch stumme Organkomposition Körpersprache bildet aus solchen Aktionen, ihrer Aneinanderreihung und Überlagerung, eine Sichtbare Musik mit allen Mitteln, die auch klingender Musik zu Gebote stehen. Motive werden entwickelt, variiert und reprisenhaft wieder aufgegriffen, im mehrstimmigen Satz entstehen Ergänzungen, Verdopplungen, verwirrende Überlagerungen und kontrapunktische Strukturen, Soli, Ensemble und Tutti wechseln sich ab. Es wird, wie es Dieter Schnebel in "ki-no" formuliert hatte, eine "Musik jenseits des Klanges" etabliert, nicht jedoch in der akustischen Vorstellung, sondern im Sehsinn höchst real erfahren. Die folgenden Stücke Instrumentalen Theaters, Laut – Gesten – Laute von 1981 bis 85 und Zeichen-Sprache von 1986 bis 1988 führten als Musiken „für Gesten und Stimme“ die Ebenen des Hör- und Sichtbaren zusammen. Und aus dem Spiel des abstrakten Musiktheaters entstehen unvermittelt kleine Geschichten elementarer Interaktion, etwa im "Poem für vier Köpfe" aus Zeichen-Sprache.

Als summa seines Instrumentalen Theaters schrieb Dieter Schnebel "NN" für mobile Körper-Stimmen und stationäre Instrumente, uraufgeführt 2001 bei den Donaueschinger Musiktagen. Das dreiviertelstündige Werk für elf Maulwerker und drei Schlagzeuger kombiniert konzertante Musik mit Chorvokalisen, theatralische Aktionen im Zuschauerraum, stumme Sichtbare Musik, die Lesung eines Ausschnitts von Joyce's "Ulysses" und Selbstzitate aus Zeichen-Sprache und der Vokal-Komposition "Glossolalie" von 1961. Hier nun ist ihr Sichtbares nur eine Erscheinungsform der Musik unter anderen, im notwendig multisensorisch zu rezipierenden Musiktheater verschmilzt die stumme Organkomposition mit anderen visuellen Aspekten aufgeführter Musik. Was als Emanzipation der sichtbaren Musik aus der klangerzeugenden Aktion und der akustische Vorstellungen evozierenden Geste heraus begann, mündet in die musikalisch komponierte Choreografie der Ausführenden. So kann Musik nicht nur stumm sein, sondern auch blind, wird sie einzig gehört.

Volker Straebel

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leicht verändert unter dem Titel "'Musik gibt es nicht. Musik soll entstehen im Kopf des Zuschauers/Zuhörers.' Dieter Schnebels Instrumentales Theater.", in Asja Jarzina: Gestische Musik und musikalische Gesten. Dieter Schnebels "visible music" [=Körper, Zeichen, Kultur 14]. Berlin: Weidler, 2005: 172-85.
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) Leicht überarbeitete Fassung des Manuskripts der Sendung Sichtbare Musik. Dieter Schnebels Instrumentales Theater, DeutschlandRadio Berlin am 6. April 2003. Die Zitate von Dieter Schnebel stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus einem Interview mit dem Autor, geführt im März 2003 in Berlin.

(2) in: Dieter Schnebel Anschläge – Ausschläge. Texte zur Neuen Musik, Hanser: München 1993, S. 262-300

(3) Igor Stravinsky Erinnerungen. Übertragung ins Deutsche von Richard Tüngel. Zürich und Berlin 1937, S. 93. Das Zitat bezieht sich auf die Geschichte vom Soldaten 1917/18.

(4) Man denke etwa an die Stücke mit in der Abspielgeschwindigkeit zu verändernden Test-Ton-Schallplatten wie Imaginary Landscape No.1 von 1939, oder die Time-Length-Pieces von 1953-56 mit Aktions- statt Resultat-Partituren.

(5) Virgil Thomson American Music since 1910, New York 1972, S. 77

(6) vgl. die Publikumsreaktionen auf dem Ton-Mitschnitt der Uraufführung, veröffentlicht in 75 Jahre Donaueschinger Musiktage 1921-1996, col legno: München 1996

(7) Michael Kirby, Richard Schechner An Interview with John Cage, in: Tulane Drama Review 10 (1965) 2, S. 50-72, hier S. 50

(8) vgl. beispielsweise das Theatre Piece von 1960

(9) Dieter Schnebel visible music II. Nostalgie. Solo für einen Dirigenten. Partitur

(10) ibd.

(11) Dieter Schnebel MO‑NO. Musik zum Lesen, DuMont: Köln 1969, nicht paginiert

(12) ibd.

(13) Barbara Thun im Interview mit dem Autor, März 2003, Berlin

(14) Dieter Schnebel Körpersprache. Partitur

(15) ibd.

(16) Michael Hirsch im Interview mit dem Autor, März 2003, Berlin

(17) Dieter Schnebel Körpersprache. Partitur

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