Zeichen und Klänge

Im Gespräch: Morgan O'Hara, Künstlerin

Daß eine Bildende Künstlerin als Solistin eines Konzertes angekündigt wird, ist ungewöhnlich, zumal, wenn sie nicht wie mancher Kollege zum Instrument greift, sondern bei ihren Bleistiften bleibt. Für die New Yorkerin Morgan O'Hara ist dies jedoch nichts Besonderes. Seit fast zehn Jahren verfolgt sie ihr Konzept der "live transmission", der "lebendigen Übertragung" oder "Übertragung des Lebendigen", wie der doppeldeutige Titel wohl zu übersetzen wäre. Hierfür beobachtet O'Hara die Handbewegungen von Menschen bei alltäglichen Verrichtungen, etwa eines gestikulierenden Redners oder eines Nudelmachers in Italien. Einen Bleistift in jeder Hand, überträgt sie deren Handbewegungen im Moment der Beobachtung, in Echtzeit also, aufs Papier, auf dem dann jeweils charakteristische, feine Linienverläufe sich abbilden. Man mag sich an photographische Bewegungsstudien mit lang geöffnetem Verschluß erinnert fühlen, doch die Künstlerin folgt nicht wie ein Apparat bloß den Raumkoordinaten der jeweiligen Hände, sondern gibt mit variierender Liniensträrke und -schwärzung auch die Energie der Bewegung wieder. "Ich finde etwas Lebendiges und halte meinen Finger an den Puls des Lebens" erklärt O'Hara bescheiden ihr Verfahren, das Konzeptkunst, spannungsvolle Zeichnung und geradezu wissenschaftlich anmutende Dokumentation miteinander verschmilzt.

Da die "live transmissions" von der Aura ihrer Entstehung leben - O'Hara verzeichnet genau Ort, Datum und Gegenstand ihrer Bewegungsportraits - hat ihre Ausführung selbst Performancecharakter. Was also lag näher, als Künstler in ähnlicher Situation zu "porträtieren", Musiker etwa? Über die Jahre schuf O'Hara einen umfangreichen Werkkomplex mit "live transmissions" von Aufführungen zeitgenössischer Musik, die sie in New York und auf ihren regelmäßigen Reisen in Europa observierte. Die Handbewegungen von Pianisten oder Organisten etwa ("Keyboard Studies") orientieren sich an der vertikalen Linie der Tastatur, bilden in den verschiedenen Lagen unterschiedliche Dichtegrade aus, verschwimmen zu Wölkchen, wenn der Spieler zu ausladenden Gesten neigt. In der Zeichnung schlägt sich so beides nieder, die Charakteristika der Komposition und die Eigenheiten des Musikers - Margaret Leng Tan gibt ein völlig anderes Bild als Hermann Nitsch oder Cecil Taylor.

Im vergangenen Jahr wagte O'Hara den Sprung auf die Bühne und trat als Mitglied des Ensembles von Anthony Braxton auf oder zeichnete die Bewegungen des Kairos-Streichquartetts im Podewil. Mehr als zwei Händen gleichzeitig zu folgen, bereitet ihr kein Problem: "Ich habe im Prinzip für jede porträtierte Hand einen Bleistift, manchmal bis zu acht gleichzeitig. Das ist nicht weiter schwierig, ich bin als Kind in Japan aufgewachsen und kann mit Stäbchen umgehen." Ihr heutiges Konzert mit dem Ensemble work in progress im Hamburger Bahnhof (Leitung: Gerhardt Müller-Goldboom, Beginn 20.00 Uhr) führt noch einen Schritt weiter. Vier Komponisten nahmen O'Haras Zeichnungen zum Ausgangspunkt für neue Werke. Im September spielte Anthony Braxton die New Yorker Uraufführung seiner "Composition #231" selbst, heute wird Johannes Ernst mit ihrer Hilfe einige Blätter O'Haras als graphische Notation interpretieren. Die übrigen drei Stücke des Konzertes sind Uraufführungen von Gerhardt Müller-Goldboom, Ushio Torikai und Jakob Ullmann.

Ullmann, der sich wie O'Hara in seiner ästhetischen Grundhaltung John Cage nahe weiß, implementierte Folien einer "live transmission" von David Tudor bei der Aufführung von "Rain Forest" in seine Partitur. "19'30" for the Morgan O'Hara project" besteht aus langen Liegetönen des Ensembles, die nur gelegentlich durch kleinintervallige Umspielungen einzelner Instrumente aufgelockert werden. Diese Abweichungen von der Regel folgen dann jeweils den Handbewegungen David Tudors an seinen table-top-electronics. Wie im bildnerischen Werk, das hier die Vorlage lieferte, entspringt das Künstlerische der Beobachtung, der Übertragung in ein anderes Medium, einem konzeptionellen Verfahren also und nicht individuellem Ausdruckwollens.

In die visuelle Gestaltung des Konzertes wird O'Hara diesmal auch Live-Videoprojektionen einbeziehen. "Das Publikum soll diesen Berührungspunkt zwischen künstlerischem Konzept und physikalischer Realität genau nachvollziehen können. Deshalb werde ich einige Ansatzpunkte der Musiker an ihren Instrumenten vergrößern." Ihre Zeichnungen sind ja vom 13. Februar bis 13. März in der Gruppenausstellung "IN 'N OUT" in der Galerie Rainer Borgemeister in den Hackeschen Höfen zu sehen - da sollte man das Konzert ruhig für neue Versuche nutzen.

Volker Straebel

(anläßlich eines Konzerts mit dem Ensemble work in progress im Hamburger Bahnhof am 23.Jan. 1999)

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leicht verändert unter dem Titel "Morgan O'Hara läßt Töne auf dem Papier tanzen" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 23.Jan. 1999
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