Freiheit der Tradition

Michael Nymans Musik als Musikgeschichte

Die kompositorische Karriere Michael Nymans begann mit einem langen Schweigen. Als der Zwanzigjährige 1964 seine Studien am Londoner King's College abschloss, fand er sich in einer musikgeschichtlichen Situation vor, die ihm die Fortsetzung seiner Arbeit unmöglich erscheinen ließ: "Als Student [...] schrieb ich im Stil von Hindemith und Schostakowitsch. Dann kam ich in Kontakt mit der Manchester Schule – [Peter] Maxwell Davis, [Harrison] Birtwistle und [Alexander] Goehr – und es war nicht nur ein absolutes Gebot, serielle Musik zu schreiben, sondern auch alle andere Musik, die nicht seriell war, als die Musik von Idioten zu betrachten. Man durfte noch nicht einmal Sympathie für Benjamin Britten zeigen! Alles war Darmstadt, dieser serielle Post-Webern Unsinn. Ich habe versucht, ein serielles Stück zu schreiben, aber ich gab es auf. Und ich schrieb nicht eine einzige Note von 1964 bis 1976, weil ich mich nicht damit abfinden konnte, serielle Musik zu schreiben."(1)

Stattdessen machte sich Nyman als Musikwissenschaftler und -kritiker einen Namen. Er verfolgte die Entwicklung der aktuellen Musik jenseits der seriellen Avantgarde und legte 1974 seine Beobachtungen in dem bald zum Standardwerk avancierten Buch "Experimental Music – Cage and beyond" nieder. Ausgehend von Vordenkern wie Erik Satie und Charles Ives beschreibt Nyman hier die Auflösung des traditionellen Werkbegriffes in der Musik von John Cage und dessen Umfeld, in audiovisuellen und konzeptionellen Musikperformances der Fluxus-Bewegung und in der live-elektronischen Musik im Amerika der sechziger Jahre. Das letzte Kapitel widmet er der Minimal-Music, deren Namen der Kritiker Nyman 1968 wahrscheinlich "erfunden" hat. Die Werke der Gründerväter LaMonte Young und Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass konnte Nyman 1974 noch als statisch respektive als in "graduellen Prozessen" (Reich) verlaufend charakterisieren, hatten doch die amerikanischen Komponisten ihre Wende zu den der Filmcollage ähnlichen Reihungen einzelner Patternfolgen gerade erst (Reich: Music for Mallet Instruments, Voices and Organ, 1973) oder noch nicht vollzogen (Glass: Einstein on the Beach, 1976). Ihnen, die bald Anleihen machten bei afrikanischen und asiatischen Musikkulturen, stellte Nyman die jungen britischen Komponisten entgegen. Um 1970 hätten diese einen "Kult des Schönen" entwickelt, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: "Die Englischen Komponisten zogen es vor, Musik von westlichen Klassischen Komponisten als Ausgangsmaterial zu verwenden. Und während die Amerikaner genau kontrollierte [Form-]Systeme benutzten, neigten englische Komponisten zu weniger eingeengten Verläufen."(2)

In dieser veränderten künstlerischen Situation nahm Michael Nyman das Komponieren wieder auf. 1976 entstand unter dem Einfluss Steve Reichs, in dessen Ensemble Nyman seit 1972 mitgewirkt hatte, zunächst die streng minimalistische Decay Music (3). Im gleichen Jahr schrieb Nyman auf Einladung von Harrison Birtwistle, der damals die Musikalische Leitung des National Theatre inne hatte, für eine Produktion von Carlo Goldonis Il Campiello Arrangements von venezianischen Goldolierenliedern des 18. Jahrhunderts. Bereits in der Instrumentation dieser von einer "Straßenkapelle" gespielten Bühnenmusik zeigt sich die Verbindung von historischen und modernen Elementen: Nyman kombinierte Rebec, Schalmei und Zugposaune mit Sopransaxophon, Banjo und Bass Drum.

Aus der "Compiello-Band" wurde 1977 die "Michael Nyman Band", die mit wechselnden Besetzungen aus Flöte, Saxophonen, Blechbläsern, Klavier, Streichquartett und Bassgitarre bald in ganz Europa auf Tournee ging. Wie Steve Reich und Philip Glass verfügte Nyman nun über ein eigenes Ensemble, in dem er (als Pianist) auch selbst mitwirkte. Er komponierte zunächst hauptsächlich für dessen ungewöhnliche Besetzung, die durch ihre elektrische Verstärkung eine besondere klangliche Präsenz erhielt. Frühe Stücke wie In Re Don Giovanni von 1977 stehen dabei für die Konfrontation musikgeschichtlicher Zitate mit avantgardistischer Form und populärer Wirkung. In kurzen Wiederholungsschleifen tritt diese Musik auf der Stelle und entfaltet eine der Rock-Musik nicht unähnliche Sogwirkung, bedient sich dabei jedoch ausschließlich der ersten 16 Takte der Registerarie aus Mozarts Don Giovanni.

 

An einem anderen Beispiel sei dieses Verfahren kurz erläutert. Auf Wunsch von Peter Greenaway sollte sich die gesamte Filmmusik von "Drowning by Numbers" (1988) auf das Andante von Mozarts Symphonie Concertante in Es-Dur (KV 364) für Violine, Bratsche und Orchester beziehen. In der 1998 entstandenen Suite ersetzte Michael Nyman die wegen ihrer Besetzung populärer anmutende Michael Nyman Band durch ein Kammerorchester, das allerdings gegenüber der Instrumentation Mozarts (Solo-Violine und -Bratsche, Oboen, Hörner und Streicher) um Flöten, Englischhorn, Klarinetten, Fagotte, Trompeten und Klavier erweitert wurde. Im ersten Satz (Trysting Fields) konzentriert sich Nyman auf die langen Sekundvorhalte im ersten Thema seiner Vorlage. Dieses Motiv tritt jeweils am Phrasenende auf, also am Beginn jedes zweiten Taktes. Die zwei Töne "sampled" Nyman in der Solo-Violine respektive Solo-Bratsche in der ursprünglichen Lage, übernimmt die Tonart c-moll, das Tempo, Dauernverhältnisse und den ostinaten Achtelpuls der Streicherbegleitung. Dieses Material wird dreimal wiederholt, um dann nahtlos zur nächsten Stelle zwei Takte später überzugehen. Nach drei derart durchgeführten Motivzitaten wird das Thema bei Mozart wie bei Nyman von der Bratsche leicht verändert wiederholt. Dabei kehrt sich im Nachsatz die Bewegungsrichtung des Vorhalts um, die Sekunde steigt nicht mehr ab, sondern auf, schließlich tritt eine Pralltrillerfigur an ihre Stelle.

Nach einem festen Verfahren wählt Nyman also sehr kurze wörtliche Zitate aus der klassischen Vorlage und unterwirft sie einer minimalistischen Repetition. Die tonale Orientierung bleibt erhalten, verändert wird jedoch die harmonische Fortschreitung. Schließlich fehlen ganze Takte des Ausgangsmaterials und die harmonischen Stufen stehen unvermittelt nebeneinander, statt logisch einer Kadenz zu folgen.

Auch im fünften Satz der Suite, Fish Beach, wird die harmonische Struktur der Vorlage verlassen, ohne dass Nymans Partitur tonalen Halt aufgeben würde. Die Grundtöne der um die sechste Stufe erweiterten Kadenz am Ende der Durchführung erscheint nun als stark verlangsamte Bassbewegung, zugleich als trotz der Wiederholungen rascher fortschreitendes Pendeln in der Trompete. Durch geschickte zeitliche Disposition vermeidet die Filmmusik auffällige Dissonanzen. Stattdessen entsteht der Eindruck von Statik, der nichts mehr ahnen lässt von der ursprünglichen, auf Fortschreitung gerichteten Energie der Kadenz vor der Reprise.

 

Man hat Michael Nyman nicht ganz zu unrecht den Vorwurf gemacht, die Minimal-Music korrumpiert zu haben. Seit dem immensen Erfolg von dem Soundtrack zu Greenaways The Draughtman's Contract 1982 (es folgten u.a. The Man Who Mistook His Wife For A Hat 1986, Prosporo's Books 1990 und The Piano 1992) sind hauptsächlich seine Filmmusiken bekannt geworden, denen in der Tat der Stachel ästhetischer Brechung fehlt. Anders als die Konzertstücke des amerikanischen Minimalismus widersetzt sich diese Musik nicht dem oberflächlichen, im Film allerdings notwendig unbewussten Konsum. Auch Nymans Recycling eigener Stücke verträgt sich nicht mit der romantischen Vorstellung, ein Kunstwerk wolle hart errungen sein. Dabei lässt sich die Kompositionsgeschichte von Strong on Oaks, Strong on the Causes of Oaks durchaus mit der Art vergleichen, in der Barockkomponisten ganze Sätze in andere Werke übernahmen: 1993 schrieb Michael Nyman das Violinensolo Yamamoto Perpetuo für eine Modenschau des Designers Yohji Yamamoto. Im Jahr darauf wurde dieses Stück als Stimme der ersten Violine wörtlich in das Vierte Streichquartett übernommen. Dessen erste beiden und drei letzten Sätze bearbeitete Nyman 1997 wiederum für Kammerorchester, wobei Strong on Oaks, Strong on the Causes of Oaks sich nur durch wenige Wiederholungen oder Kürzungen von dem Streichquartett unterscheidet.

In seinen originär für den Konzertsaal entstandenen Werken spricht Nyman jedoch eine andere, vor allem in der Harmonik anspruchsvollere Sprache. Die amerikanischen Minimalisten wählten um 1970 vor allem Quartschichtungen als klangliches Material. So ließen sich vage Bezüge zu afrikanischen und asiatischen Musikkulturen herstellen, aber auch zu Tendenzen der zwanziger Jahre, in denen Komponisten sich mit dem Rückgriff etwa auf osteuropäische Volksmusik dem starren tonalen Denken zu entziehen trachteten (man denke zum Beispiel an Bela Bartok). Nymans Doppelkonzert für Saxophon, Cello und Orchester (1996/97) beginnt mit einer langsam absteigenden Linie aus fünf Tönen, die sich den tonalen Zentren D (ohne Terz) und E-Dur zuweisen lassen, allein der später einsetzende Orgelpunkt in den Kontrabässen legt den Schwerpunkt auf D. In der Folge wird im Orchestersatz der Dreiklang auf D (Dur und Moll sind gleichermaßen vertreten) um zwei weitere Terzen erweitert, auf der Quinte von D baut sich a-moll auf. Das bereits eingangs präsente E-Dur lässt sich nun als Dominante zu a deuten.

Man merkt diesem Interesse Nymans an harmonischer Ambiguität seine Orientierung an Klassik und Barock an. Die Aufhebung tonaler Spannungen und Schlusswirkungen geschieht hier nicht durch die Leugnung harmonischer Zusammenhänge, sondern durch deren bewusste Inszenierung. Ähnlich ist der Verweis auf die traditionelle Gattung des Konzert-Stückes zu verstehen. Die (übrigens elektrisch verstärkten) Solisten erscheinen bei Nyman nicht als Individuen, nicht als musikalische Subjekte, die im widerstreitenden Austausch mit dem Ensemble stehen, sondern einzig als Klangfarbe. Die durch den Titel geweckte Erwartung einer narrativen oder dialogischen Struktur wird gründlich enttäuscht.

 

Aus Michael Nymans Musik spricht die Sehnsucht, an der europäischen Musikgeschichte anknüpfen zu können. Dabei steht Humor neben Sentimentalität, geistreicher Traditionsbezug neben problematischer Verwischung der Konnotationen des Ausgangsmaterials, wie etwa bei den Six Celan Songs (1990) im Stile von Kurt Weil. Ob diese Texte, die sich mit schmerzhafter Eindringlichkeit auf die Erfahrung des Holocaust beziehen, eine der gehobenen Unterhaltung verpflichtete Musik vertragen, darf bezweifelt werden. Andererseits kann Nyman als Kenner der Neuen Musik der Vorwurf ästhetischer Ignoranz nicht wirklich treffen, verweist er doch auf John Cage, wenn ihm die gesamte Musikgeschichte zum Material wird. Diesen Weg gab er bereits vor, als er 1974 sein Buch Experimental Music mit der Bemerkung schloss, dass die Zukunft oder aber der Untergang dieses Konzeptes Experimenteller Musik in den Händen der (damals) jungen britischen Minimalisten liege. Dass deren Umgang mit der Vergangenheit nicht notwendigerweise ein kritischer sein würde, war zu erwarten. Hier wurden keine Traditionen gebrochen, sondern der Traditionsbruch selbst als nicht selbstverständliches kulturelles Erbe entlarvt.

Volker Straebel 99

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leicht verändert unter dem Titel "Freiheit der Tradition. Michael Nymans Musik als Musikgeschichte" in: Programmbuch "Michael Nyman - vom Kino zum Konzertsaal. Filmmusikfest in Berlin und Potsdam 2000, S.5-9
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) Interview Michael Nymen in K. Robert Schwarz: Minimalists, London 1996, S. 195f. (alle Übersetzungen V. Straebel)

(2) Michael Nyman: Experimental Music, New York 1974, S. 135f.

(3) Obscure Records, Island, u.a. mit 1-100 für Klavier