Interview mit Hermann Nitsch

"Ich liebe das Übermaß, das Unmäßige, den Überfluss, das Unmaß, das Unausschöpfbare." Hermann Nitsch, 1938 geborener Mitbegründer des Wiener Aktionismus, hat im vergangenen Jahr sein ekstatisches Welt-Theater, das "6-Tage-Spiel", im niederösterreichischen Prinzendorf erstmals vollständig aufgeführt. 150 Musiker und ebenso viele Akteure verbanden in einem gewaltigen Gesamtkunstwerk szenische Elemente, die Nitsch seit 1962 in spektakulären Aktionen und "Abreaktionsspielen" entwickelt hatte: Kreuzigungen, Tierschlachtungen und -ausweidungen, das exzessive Ausgießen warmen Blutes über nackte Körper, aber auch die poetische Verwendung liturgischer Gegenstände. In seinem psychoanalytisch fundierten "Orgien-Mysterien-Theater" beschreitet Nitsch den Weg von der scheinbar blasphemischen Tabu-Verletzung zum "absoluten Daseinsjubel", zur Lebensbegeisterung im "Urexzesserlebnis". Am vergangenen Sonntag kamen im Hamburger Bahnhof Ausschnitte aus seiner Musik zum "6-Tage-Spiel" zur Aufführung. Mit Hermann Nitsch sprach Volker Straebel.

Straebel: Herr Nitsch, ihre Aktionen sind von jeher von kontroversen Diskussion und sogar strafrechtlichen Prozessen begleitet. Welchen Angriffen sehen sie sich derzeit wegen ihrer Kunst ausgesetzt?

Nitsch: Sie wissen ja, dass bei uns in Österreich ein Rechtsrutsch zu befürchten ist, und es vergeht keine Woche, in der die FPÖ keine Attacke gegen mich reitet, auch wenn ich gar keine Veranstaltungen mache. Ich bin jetzt das Schwarze Schaf, an dem sie ein Exempel statuieren wollen, dass sie solche Kunst abzuschaffen gedenken. Womit sie übrigens sehr viel Publikumserfolg haben. Als ich erklärt habe, dass ich Prinzendorf, den Ort des "Orgien-Mysterien-Theaters", mit einer privaten Stiftung institutionalisieren möchte, hat der Kultur-Veranstaltungsleiter von Niederösterreich eine Meldung herausgegeben, wonach das um jeden Preis verhindert werden müsste. Und neulich hat der Leiter des Kulturausschusses im Parlament, auch ein FPÖ-Mann, im Fernsehen eine halbe Stunde lang gegen mich polemisiert. Dabei will ich überhaupt keine öffentlichen Subventionen.

Straebel: Sie veranstalten doch die Festspiele auf ihrem privaten Grundstück...

Nitsch: ...und ich finanziere sie selbst mit meiner Malerei. Ich bin eigentlich jemand, der sich für Politik überhaupt nicht interessiert. Mir ekelt vor Politik. Aber wenn ein Gewitter kommt, müssen sie das Fenster zumachen, dass es nicht reinregnet.

Straebel: Enttäuschen sie solche Angriffe?

Nitsch: Mich enttäuscht, dass nachdem ich jetzt seit vierzig Jahren diese Kunst mache, es immer wieder Kräfte gibt, die zerstören, was an Durchsetzung bereits erreicht wurde. Ich habe schon einmal buchstäblich Berufsverbot gehabt, wenn auch unter einer schwarzen Regierung. 1966 wurde ich wegen einer Aktion für ein halbes Jahr auf Bewährung verurteilt. Hätte ich also etwas Einschlägiges noch einmal gemacht, dann hätte ich das halbe Jahr absitzen müssen, zuzüglich der neuen Strafe. Ich bin dann wie viele meiner Kollegen nach Deutschland ins Exil gegangen, weil die österreichische Situation politisch zu eng war. Und es wäre schlimm, wenn sich nun so etwas wiederholen würde. Ich soll zum Beispiel 2003 in Wien den Parsifal inszenieren, und es jetzt natürlich sehr fragwürdig, ob das überhaupt zustande kommt.

Straebel: Wird ihrem Umgang mit sexuellen und religiösen Tabus vielleicht eine provokante Haltung unterstellt, die für sie selbst gar nicht im Vordergrund steht?

Nitsch: Ich möchte jetzt nicht das weiße Lamm spielen, aber ich wollte immer nur Intensität auf die Bühne bringen, nichts anderes. Ich wollte die Leute nicht unbedingt schockieren, sondern sie durch intensives Erleben aufwecken. Ich habe nie am Reisbrett irgendeine Provokation konstruiert. Das haben Kollegen von mir gemacht, und ich habe davor auch Respekt, aber das ist ein anderer Weg. Außerdem habe ich nie Tabus gebrochen, sondern ich habe immer versucht, die Ursachen von Tabus psychoanalytisch zu beleuchten. Vielleicht kann man den Tabu-Bruch auch als eine Wirklichkeitserweiterung verstehen. Es geht mir eigentlich dauernd um eine Veränderung und Erweiterung der tatsächlichen Wirklichkeit, die ja für mich kein statischer Begriff ist, sondern ein dynamischer. Tabus abzuschaffen geht gar nicht so einfach. Wenn in den Naturvölkern einer ein Tabu übertritt, dann setzt er sich hin und stirbt. Und wenn in unserer Gesellschaft einer jemanden umbringt, dann wird er glaube ich auch kein glücklicher Mensch werden. Den Tabus können wir uns nicht so leicht entziehen. Wir können sie uns nur bewusst machen.

Straebel: Wann begannen sie, neben kreatürlichen Elementen auch religiöse Motive zu verarbeiten?

Nitsch: In meiner frühesten Jugend. Ich habe als junger Maler mich immer wieder mit der Kreuzigung beschäftigt, dem Drama schlechthin. Ich wollte auch von Anfang an, dass mein "6-Tage-Spiel" ein religiöses Festspiel sein sollte. Als ich als Zwanzigjähriger durch Nietzsche den Impuls bekam, das Leben zu bejahen, da begann meine Auseinandersetzung mit Mythen und anderen Religionsformen. Ich habe auch sehr früh die Arbeiten von C.G. Jung kennen gelernt, die mich bis heute beeinflussen, vor allem die Vorstellung des kollektiven Unbewussten - psychische Fakten, die aus dem Unbewussten fast vegetativ entstehen.

Straebel: Besteht nicht ein Widerspruch zwischen ihrer exstatischen Daseinsbejahung und den Tötungsritualen und Ausweidungen in ihren Aktionen?

Nitsch: Das ist eine Sache, die jenseits von Gut und Böse angesiedelt ist. Ein Tötungsakt ist eben ein Akt, der besondere Intensität mit sich bringt und besonders tief rezipiert wird. Es gibt kein Theaterstück, das sich nicht mit dem Tragischen auseinandersetzt, das sich nicht mit dem Tod auseinandersetzt. Überall Mord und Totschlag, von den Griechen bis zur Moderne. Es gibt fast kein Theater ohne Tod, es sei denn, es handelt sich um Lustspieldichtung. Eine Tragödie oder ein Drama ohne echten Tiefgang ist irgendein Revolverfilm, irgendein Kriminalfilm. Da gibt es den appetitlichen Tod im Fernsehfilm. In meinem Theater ist der Tod eben nicht appetitlich. Da wird eben rohes Fleisch gerochen und Blut gerochen. Ich möchte tiefer gehen, ohne den Tod zu verherrlichen. Er ist einfach da, und in der Tragödie drückt sich der Impuls des Menschen aus, Intensität zu erfahren. Wie sehr das ein Bedürfnis ist, zeigen diese Filme. Der Gegenstand, den man am Abend im Fernsehen am häufigsten sieht, ist der Revolver. Das wohnt ja den Leuten inne, das Bedürfnis, das ungelebte Leben um jeden Preis nach außen zu bringen. Das möchte ich ebenfalls nach außen dringen lassen und bewusst machen, nur dass sich mein Theater anderer medialer Bedingungen bedient.

Straebel: Kann man ihren Ansatz einer psychoanalytischen Dramaturgie dahingehend verstehen, dass sie nicht mehr von den Dingen reden [unterstrich], sondern die Dinge sich tatsächlich ereignen lassen?

Nitsch: Das ist richtig. Bei mir wird eben nicht mehr assoziiert, sondern es wird mit ziemlich tiefen Empfindungen in die Tiefe gelotet. Da wird jenseits des Verbalen eine Situation geschaffen, in der das Tatsächliche gezeigt wird. Es ist eine nonverbale Psychoanalyse.

Straebel: Das scheint mir ein guter Moment, über ihre Konzeption des integralen Gesamtkunstwerkes zu sprechen.

Nitsch: In den fünfziger Jahren waren die verschiedensten Künstler auf der ganzen Welt damit konfrontiert, dass ihnen ihre eigene mediale Sprache nicht mehr ausreichte. Es sind Aktionen oder Happenings gemacht worden mit realen Geschehnissen, und die sind schmeckbar, sind riechbar, sichtbar, hörbar, sind tastbar. Das war der Durchstoß zur Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit ist automatisch das Gesamtkunstwerk. Da braucht man nicht zu addieren, wie etwa Wagner, dem meine größte Bewunderung gilt, der aber trotzdem Musik und Text addiert hat.

Straebel: In ihrem Theater verknüpfen sie Farbprojektionen und Skrjabin-Sonaten, die Betrachtung des Sternenhimmels mit Musik der Sphärenharmonie. Sie setzen bewusst Verbindungen und übernehmen nicht einfach die Wirklichkeit als Ready-Made.

Nitsch: Meine Arbeit fängt da natürlich erst an, ich arbeite eben mit der Wirklichkeit. Die Synästhesie spielt für mich eine große Rolle. Ich kombiniere Sinnesempfindungen, wie sie in der Natur nicht kombiniert werden. Mich interessiert nicht die klassische Synästhesie, in der Musik mit bestimmten Farbtönen verbunden wird. Mir geht es um den Zusammenklang der verschiedensten Empfindungen.

Straebel: Welche Rolle hat in diesem Ganzen die Musik, die jetzt im Hamburger Bahnhof zu hören war?

Nitsch: Es ist ja bei mir oft die Rede von Orgiastik, Abreaktion, Katharsis und der Entfesselung aller Sinne. Da gibt es auch das Hörbare und es spielt der Lärm und das Geräusch eine Rolle. Die Affekte sind so stark, dass die Sprache nicht mehr gebraucht werden kann. Es geht um eine akustische Äußerung, die menschheitsgeschichtlich vor der Sprache liegt. Also den Schrei, der ja auch bei äußerster Erregung, bei Schmerzen und extremer Freude, auf dem Fußballplatz usw. auftritt. Und da habe ich mich bemüht, mit dem Schrei Verdrängtes nach außen zu reißen. Das ist ja später in der Psychoanalyse geradezu eine Mode geworden. Die ersten musikalischen Versuche im Zusammenhang mit meinem Theater sind so verlaufen, dass die Lärmmusiken die Aktionen intensivieren sollten und umgekehrt die Aktionen Geschrei und Lärm aktivierten. Bei dieser Funktion ist es geblieben. Meine Musik ist die geräuschmäßige Äußerung, die diesen Geschehnissen entspricht. Später hat mich dann immer mehr die Farbklangmusik interessiert, die Orgel.

Straebel: Wenn jetzt diese Musik unabhängig von den Aktionen aufgeführt wird, wird sie dann von ihren Programm abgelöst?

Nitsch: Nein, meine Musik ist natürlich keine absolute Musik. Ich führe immer nur vor, was beim Orgien-Mysterien-Theater erklingt, also ist es wie eine konzertante Wagneraufführung. Meine Musik dient immer dem Theater.

Straebel: Ihre Aktionen haben auch sehr poetische, leise Momente, etwa Reinigungsszenen, das genau gestaltete Auswaschen der Wunden. Über diese Aspekte wird kaum gesprochen.

Nitsch: Es ist eigentlich sehr traurig, dass immer nur das extrem Dramatische wiedergegeben wird. Das ist ein Problem der Dokumentation. Wenn die Leute draußen sitzen in den Gärten bei Wein und einfachem Essen und auf den Sternenhimmel schauen, während in der Allee ein Streichquartett eine meditative Musik spielt - das ist nicht festzuhalten. Genauso wenig wie die Düfte. Oder einfach die heitere Festlichkeit, wenn die Leute sitzen und trinken und Heurigen-Musik hören oder dem Sonnenuntergang zuschauen.

Straebel: Dann nehmen sie die ganze Natur in ihr Werk hinein.

Nitsch: Ja, das Ziel wäre, dass die Leute nach den Tagen extremen Erlebens einfach in die Natur hinausgehen und alles inniger und tiefer empfinden. Die Natur spielt in meinem Theater eine bedeutende Rolle. Sie umschließt gewissermaßen die Bühne. Es gibt ja keine Kulissen, der Sternenhimmel ist das Tor zur Ewigkeit, aber keine Kulisse.

Volker Straebel 11.99

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leicht verändert unter dem Titel "Lieben Sie Blut, Herr Nitsch?" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 1.Dez. 1999
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