Für die Wissenschaft ins Exil

Im Gespräch: Gösta Neuwirth, Komponist
(zum 60. Geburtstag am 6. Januar 1997)

"Diese prinzipielle Erfahrung, daß ich hier aufgenommen wurde, nachdem man mich anderswo vertrieben hat, die wird mir bleiben." Vierzig Jahr ist es her, daß Gösta Neuwirth zum erstenmal nach Berlin kam. Gegen drei Uhr in der Früh setzte ihn ein Gemüselaster irgendwo Unter den Eichen ab und der junge Kompositionsstudent aus Wien ging durch die nächtliche, noch immer zerstörte Stadt zum Bahnhof Zoo. Seine Reise galt 1956 der Witwe des Komponisten Franz Schreker, einem Zeitgenossen Schönbergs, dessen expressionistisches Musiktheater in der Zeit des Ersten Welkrieges breite Anerkennung gefunden hatte, nach der Verfolgung im Dritten Reich jedoch in Vergessenheit geraten war. Erregt erinnert sich Neuwirth: "Seit 1934 (dem Todesjahr Schrekers) hat niemand danach gefragt, ob es da noch einen Nachlaß gibt. Ich war 19 Jahre alt und mit der Situation konfrontiert der erste zu sein, der sich mit diesem Komponisten beschäftigt, den die Nazis in den Tod getrieben hatten. Das war eine ganz schönes Gewicht, das da auf mich draufgelegt war." Zumal sich das Todschweigen Schrekers wiederholt, als Neuwirths Exposé zur Harmonik von Schrekers Oper Der ferne Klang in Wien nicht zur Dissertation angenommen wird mit der Begründung, daß man über eine Juden nicht promovieren könne. Berlin wird Neuwirth so 1963 zum "passenden Exilort", an dem er seine Studie abschließen kann. Es grenzt an Ironie, daß der Nachlaß Schrekers, der 1920-32 der Berliner Musikhochschule als Direktor vorgestanden hatte, heute in der Albertina in Wien verwahrt wird.

In dem in Hinblick auf die Neue Musik provinziellen Berlin der 60er Jahre vernachlässigte Gösta Neuwirth seine kompositorische Arbeit zugunsten der Musikwissenschaft. Dabei geriet ihm die Musik des ausgehenden Mittelalters mehr und mehr ins Blickfeld. Ein Dufay-Buch hat er bis heute nicht geschrieben, längst aber ist es ihm "fest im Hinterkopf". Doch verstummt im Historiker Neuwirth nie der Komponist. Nicht bloßer Archivar will er, der sich seine wissenschaftlichen Sporen als Mitarbeiter der Schönberg-Gesamtausgabe verdiente, sein, sondern will erklären, was in den Werken selbst vorgeht. Werkerkenntnis, die Frage, "was der Komponist gedacht hat, als er von einer Note zur nächsten ging" ist ihm wesentliches Anliegen, womit er sich von solchen Kollegen abhebt, denen musikalische Werke zu bloßen Dokumenten der Musikgeschichte verkommen.

Als Neuwirth 1973 für neun Jahre die Leitung des Elektronischen Studios in Graz übernahm, wandte er sich wieder verstärkt dem eigenen Komponieren zu. In rascher Folge gelangte bereits in Berlin Konzeptioniertes aufs Papier, hier entstanden auch wichtige Teile seines 1992 uraufgeführten zweieinhalbstündigen Kammermusikzyklus' Heute und Morgen nach Motiven von Marcel Proust. Experimente zur musikalischen Wahrnehmung elektronischer Klänge führten schließlich auch den Instrumentalkomponisten Neuwirth auf neue Wege. Die serielle Anlage seiner Werke wich der Konzentration auf die einzelnen Klänge selbst, eine "Phänomennologie des Hörens" tat sich auf, die in spannungsvollen Gegensatz zur mentalitätsgeschichtlichen Reflexion des Musikologen geriet. Auch als Professor für die Geschichte der Musiktheorie (seit 1982 an der HdK) stellt sich Neuwirth dieser Dichotomie von Wissenschaft und Kunst, in der Letztere stets vorauseilt. Als das Gespräch auf das das schöpfende Individuum transzendierende Moment des Kunstwerkes kommt, zitiert er schließlich aus Adornos Minima Moralia: "Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen" (§122).

Während seine Kammermusikwerke längst regelmäßig aufgeführt werden, bleiben Gösta Neuwirth Aufträge für größere Besetzungen - etwa von der Musikbienale oder den Festwochen - noch immer versagt. Auch die Akademie der Künste hat ihn noch immer nicht in ihre Reihen gewählt, wenn auch seine Musikmanuskripte nun Eingang in ihr Archiv fanden. Als schöne Würdigung zu seinem heutigen 60. Geburtstag eröffnet die Reihe Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts (Wolke Verlag, Hofheim/Ts) mit dem Neuwirth gewidmeten Band, der neben dem Bestandsverzeichnis auch Gespräche und Texte von Weggefährten wie Schülern enthält. Daß sein Geburtstagskonzert vom Klangforum Wien bestritten wird (Uraufführungen seiner Kammermusik für Viola und Klavier, II. Teil und György Kurtágs Hommage à Gösta Neuwirth), dürfte dem überzeugten Wahlberliner jedoch noch immer pikant erscheinen.

Volker Straebel 1.97

up     home

leicht verändert unter dem Titel "Für Wissenschaft ins Exil" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 6.Jan. 1997
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission