Seid umschlungen!

Rettung des Neujahrkonzerts in den Sophiensälen

Wann immer wir in diesen Tagen unsere Schritte in die Konzerthäuser lenken, tun wir dies in froher Erwartung festlicher Ereignisse, wollen wir die zum Jahreswechsel gereichte Kost aus Beethovenscher Erbauungs- und Wienerischer Unterhaltungsliteratur genießen in Gegenwart schöner Damen und stattlicher Herren. Im Foyer der Sophiensäle empfingen uns jedoch keine prächtigen Roben - die Avantgarde gibt sich von jeher schlicht -, dafür drei, geschmackvoll mit Sessel und Tischchen arrangierte altertümliche TV-Geräte, die unter Flackern und Klirren Bilder und Töne von längst verklungenen Neujahrsfesten aus dem schönen Wien preisgaben. Da fallen sich die Straußwalzer munter ins Wort, drehen sich Debütantinnen in neckischer Choreographie, und nur Beethoven bleibt stumm, dessen mürrische Büste einen hilflos flimmernden Grundig Monolith krönt.

Im Saale selbst empfangen uns die Stimmen jener, die hier einmal politisch agitierten, und wir bedenken auf dem Wege zu unserem Klappgestühl Clara Zetkins Rat, zur Überwindung der aktuellen wirtschaftlichen Krise das Privateigentum aufzuheben (von dem Gedanken an ein rauschendes Amüsement hatten wir uns inzwischen ohnehin verabschiedet). Da tritt Christian von Borries, Spiritus Rektor dieses Neujahrskonzertes, vor den unschuldig weißen Raffvorhang und hebt den Taktstock zu Dieter Schnebels Nostalgie, einem Solo für Dirigenten. Etwas linkisch lugt er hinter seiner dicken Hornbrille hervor, mimt den leicht verwirrten Meister mit pomadigem Haar, dem im Eifer des Gefechts bald die Fliege verrutscht ehe er, Gipfelpunkt dieser Don Quichotterie, mit emphatisch erhobenen Armen in die Knie sinkt. Der Klamauk trifft nicht ganz Schnebels feinen Humor, doch lassen wir uns von dem charmanten Nummerngirl versöhnt zum nächsten Programmpunkt führen, der videographischen Darbietung von Schlüsselszenen aus Stanely Kubricks A Clockwork Orange, des Protagonisten höchst ambivalentes Verhältnis zu Beethovens IX. betreffend.

Den Wunsch, wie dieser sich mittels eines kühnen Fenstersprungs der Musik zu entziehen, hegten wir schon oft, allein wir wagten's nicht. Gott sei Dank, denn so kamen wir in den Genuß des jahreswenderischen Meisterwerkes in der köstlichen Transkription von Johann Nepomuk Hummel. Von Borries verstärkte das (selbstverständlich) Salzburger Ravinia-Klaviertrio mit der Flöte, und trotz feiertäglicher Verstimmtheit des Pianinos gelangen dem Quartett im Adagio Momente wahrer Innigkeit und tiefer Empfindung. Wer beschreibt aber unsere Freude über den von Chor- und Orchestermassen geläuterten Finalsatz? Während sich im Videobild Karajan mit seinen Mannen in aufrichtiger Erschütterung müht, beglückt uns ein geschickt instrumentiertes und mit Verve musiziertes Rondo voller überraschender Einblicke in die scheinbar vertraute Faktur, die barockisierenden Quartfälle etwa erreichen in der Generalbaßbesetzung neues Gewicht. Die gewaltige Emphase dieser Musik bleibt auch in der kleinen Besetzung erhalten, so daß das Abbrennen von Knallfröschen beim aus der Mollparallele hervorgehenden, strahlenden Einsatz des Jubelchores eher die Bilder von Sylvester 1989/90 ankündigt, als musikalischen Zwecken dient. Also doch ein rauschendes Fest in den Sophiensälen. Brüder! Seid umschlungen!

Volker Straebel 1.98

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leicht verändert unter dem Titel "Brüder! Seid umschlungen" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 3.Jan. 1998
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