Musik im Theater

Im Gespräch: Hans Peter Kuhn, Klangkünstler und Komponist

Theatermusik steht nicht im Ruf großer Kunst. Stärker noch als Filmmusik wird ihr eine primär dienende, die Szene illustrierende Rolle zugeschrieben, und viele Bühnenproduktionen reduzieren ihren Einsatz tatsächlich auf technisch bedingte Umbau- und Zwischenaktmusiken. Daß Hans Peter Kuhn seine Anerkennung als Komponist gerade in diesem undankbaren Gebiet erwarb, zeugt von der Originalität seiner Arbeit. Nicht ohne Selbstironie erklärt er freimütig: "Ich bin Autodidakt. Also, mit anderen Worten, ich habe nichts gelernt." Im Berlin der siebziger Jahre war der junge Kieler als Front-Sänger einer Rockband aufgetreten, hatte sich aber auch mit Aufnahmetechnik beschäftigt und Kurse am Elektronischen Studio der TU Berlin belegt, bevor er 1975 eher zufällig als Tonmeister an die Schaubühne kam. Als Urlaubsvertretung fuhr er einige Vorstellungen, wurde übernommen und blieb vier Jahre, bis zu Robert Wilsons Death, Destruction, and Detroit. "Das war natürlich ein Glücksfall, daß ich gerade dann, als ich freier und verstärkt an eigenen Sachen arbeiten wollte, auf Wilson traf." Mit diesem verbindet ihn eine nun fast zwanzigjährige Zusammenarbeit. Über dreißig Produktionen haben sie gemeinsam realisiert; heute hat ihr jüngstes Stück, Gertrude Steins Saints and Singing, im Hebbel Theater Premiere.

Kuhn schreibt in der Regel nicht auf Notenpapier und für Instrumente, sondern reist mit Notebock-Computer und Digitalsampler durch die Gegend. Ob er eine seiner eindringlichen, atmosphärisch dichten Klanginstallation entwirft, eines seiner performance-artigen Solo-Konzerte gibt oder Bühnenmusiken entwickelt, stets überführt Kuhn dem Hörer bekanntes Klangmaterial aus Alltagsgeräuschen in musikalische Collagen. In ungewohnter Kombination verbinden diese divergierende Assoziationsebenen zu einem rein abstrakten Klanggefüge. Sei es in einem Café am Hebbel Theater, sei es auf einem Spaziergang in Manhatten - Hans Peter Kuhn, der rund die Hälfte des Jahres durch die Welt reist, wird nicht müde zu betonen, daß seinen Stücken keine eindeutige narrative Struktur zugrunde liegen. "Im Theater ist eine Dramaturgie durch die Bühne vorgegeben, und auch meine Performances folgen einer dramatischen Logik, die meinen Klanginstallationen hingegen fehlt. Die lassen verschiedene Handlungsstrategien zu; der Hörer oder Betrachter ist hier viel freier." Dabei prägte der Klangkünstler im Laufe der Jahre sein eigenes Bedeutungsgefüge der Alltagsklänge aus, vor allem dann, wenn einzelne charakteristische Samples in verschiedenen Stücken erneut Verwendung finden. So entstehen (unfreiwillige) Verbindungen über Werkgrenzen hinweg, und dem erfahrenen Kuhn-Hörer erschließt sich ein ganzes Universum gelenkter Assoziationen.

Natürlich benötigt der Wahlberliner hierfür mehr Freiheiten, als man üblicherweise dem Komponisten von Bühnenmusik einzuräumen bereit ist. Daher arbeitet er zur Zeit im Theaterbereich fast nur noch mir Robert Wilson zusammen, der im bereitwillig die gewünschte Rolle des Co-Autors einräumt. Sonst gewinnt die Komposition für den Tanz an Bedeutung. Saints and Singing ist nun - neben Dr. Faustus Lights the Lights, der 1992 ebenfalls im Hebbel Theater zu sehen war - eine Ausnahme, ein "Ausflug" in die Welt der konventionell notierten Musik.

Gertrude Steins Saints and Singing ist ein wortspielerischer, literarisch abstrakter Text, der, schlicht mit "A Play" überschrieben, zwar auf das Theater verweist, jedoch weder Figuren noch Regieanweisungen kennt, erst recht keine Geschichte erzählt. Kuhn formte daraus behutsam ein Libretto, entschied, welche Passagen als Song erscheinen sollten, und machte sich an die kompositorische Arbeit. Dabei entstanden "keine Kunstlieder, aber trotz des schwierigen Sprachrhythmus singbare Stücke mit Lust am melodischen Material, etwas kratzbürstig vielleicht. Schließlich singen Schauspielstudenten von Ernst Busch, keine ausgebildeten Sänger." Ein professioneller Arrangeur setzte Kuhns Lieder für eine kleine Band aus Keyboard, Kontrabaß und Schlagzeug. "Das klingt natürlich roh, ein bißchen wie Schulaula vielleicht. Aber es funktioniert ausgezeichnet als Kontrast zu den sehr, sehr schönen Bildern Wilsons." Und es kommt fast völlig ohne die sonst dominierende Elektronik aus.

Der Komponist selbst ist eine Woche vor der heutigen [4.11.1997] Premiere auf das Ergebnis gespannt: "Das Problem, oder die Herausforderung der Zusammenarbeit mit Wilson besteht darin, daß die Stücke eigentlich erst während der Proben entstehen. Bis heute ist die Ouvertüre nicht fertig, und ob wir vielleicht doch Umbaumusiken brauchen, weiß ich auch noch nicht." Dabei hat er mit ruhiger Konzentration die Vorbereitungen voll im Griff. Mag auch alle Viertelstunde das Handy klingen - Kuhn findet nach jeder Unterbrechung sofort wieder zu seinem Satz zurück. Brechts Ozeanflug ist sein nächstes Projekt und wird im Januar am Berliner Ensemble herauskommen, wieder im bekannten, sparsam elektronischen Stil. Warum er bei seinen vielen Reisen eigentlich ausgerechnet in Berlin bleibe? "Ach, ich spreche doch ganz gut deutsch, oder? Und wenn ich in Rio lebte, wäre ich auch nicht häufiger zu Hause."

Volker Straebel 11.97

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leicht verändert unter dem Titel "Ouvertüre in letzter Minute" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 22.Dez. 1997
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