Hören als Wahrnehmung und Vorstellung

Phänomenologische Überlegungen im Angesicht des reduktiven Minimalismus in der Musik
Beitrag zu Moments Musicaux Aarau 2002

Wir sind nicht nur beschwerter durch das Gestern, wir sind anders; nicht mehr, wie wir waren vor dem Verhängnis des Gestern.
Samuel Beckett, Proust

"Das Ohr ist der bevorzugte Sinn der Aufmerksamkeit" notierte Paul Valéry in seinen Cahiers und betonte den Charakter des Gefahrensinnes, der dem Gehör eigen ist. Über weite Entfernungen hinweg gibt das Gehör uns Kunde auch von Ereignissen, die sich der visuellen Wahrnehmung verschließen – weil sie außerhalb unseres beschränkten Gesichtsfeldes liegen, Gegenstände die Sicht versperren, sie sich gar in unserem Rücken vollziehen oder überhaupt im Dunkeln. Nicht zufällig ist das Gehör der ontogenetisch früheste Sinn. Menschliche Föten reagieren bereits im Alter von 24 Wochen auf akustische Signale mit Augenbewegungen und Schreckreaktionen. Schreckreaktionen können auch später außer von haptischen überhaupt nur von akustischen Reizen ausgelöst werden können. Der rasch vorbeihuschende Schatten eines Flugzeuges mag uns überraschen, ein Warnblinklicht unsere Aufmerksamkeit erregen, kaum aber treffen sie uns mit der elementaren Wucht des präreflexiven Erschreckens. Das Gehör alarmiert, es aktiviert (vom Schlaf) oder deaktiviert (beruhigt).

Dass man das Ohr mit der Aufmerksamkeit affiziert, mag aber auch damit zu tun haben, dass nur wenige Gegenstände immerzu tönen, also wenn schon nicht in ihrem Wesen von Schalläußerungen bestimmt, so doch von diesen als stetem Attribut begleitet werden. Das Meer rauscht unaufhörlich, Tiere geben nur gelegentlich Laut, Möbel eigentlich nie. Rudolf Arnheim führte diese Beobachtung im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Theorie des Tonfilms zu der These, das Licht gäbe uns das Sein eines Dinges, während der Schall uns zumeist nur gelegentliches Tun mitteile. Damit wäre das vom Gehör Angezeigte zumeist etwas zeitlich Begrenztes, hätte somit Ereignischarakter und verdiente besondere Aufmerksamkeit. Schließlich könnte das Geschehnis schon bald vorüber sein und man sollte sich ihm deshalb möglichst rasch zuwenden.

Der Musik ist dieser Zeitkern konstitutiv. Sie ist nicht von Vergänglichkeit bedroht, als aufgeführte, klingende Musik ist sie Vergehen selbst und überführt die in der Vergänglichkeit geborgene Möglichkeit des Verschwindens in die unausweichlichen Realität. Dabei hebt sich das Bewusstsein des Hörers aus der linearen Zeitstruktur des Vergehens heraus und konstituiert einerseits im Rücklauf auf das Gehörte musikalische Form wie es andererseits in der Antizipation Enttäuschung oder Erfüllung von Erwartungen ermöglicht. So ist das Bewusstsein vom zu Hörenden nicht nur von diesem ob seiner reflexiven Distanz verschieden, es löst sich bereits im Wahrnehmen von seinem Wahrnehmungsgegenstand.

Dass das Hören nur eine und dabei höchst unvollkommende Form des Umgangs mit Musik ist, sei an dieser Stelle ausdrücklich betont. Adorno beschreibt in seinen Aufzeichnungen zur Theorie der musikalischen Reproduktion den Laut gar als bloßen Reflex: "Ihn zu hören ist die erste Stufe der Verinnerlichung, Vergeistigung – im ‚Zuhören‘ des Lautes ist, als dessen Festhalten, Identifizieren schon Hören als Vorstellung gesetzt." Da hier jedoch von einer Musik zu reden ist, von der selbst zu sprechen sinnlos erscheint angesichts der Tatsache, dass ihr Wesentliches das Hören ist, das sie provoziert, gilt es, sich gerade auf die von Adorno als problematisch diagnostizierten Implikationen des Hörens zu konzentrieren.

Das Hören von Musik konfrontiert uns mit dem Phänomen der Imagination. Ein Bild steht als konsistenter Gegenstand dem Betrachter gegenüber. Auch wenn sich die Rezeption notwendig in der Zeit vollzieht, würden wir doch sagen, wir nehmen das Gemälde als Ganzes wahr. Dies gelingt, weil wir die Gegenwart des Gemäldes teilen, und zwar für die gesamte Dauer der Wahrnehmung. Anders die Rezeption eines Musikwerkes, das – als Klingendes – der dinghaften Gegenwart in toto entbehrt. Im Hören haben wir es nie mit dem Musikstück selbst, sondern stets mit der Vorstellung desselben zu tun.

In der Terminologie, die Sartre in seiner Phänomenologischen Psychologie der Einbildungskraft entwickelt, sind Wahrnehmung und Vorstellung als verschiedene Weisen des Bewusstseins zu verstehen, sich auf Objekte außerhalb seiner selbst zu beziehen. Wahrgenommen werden Gegenstände, die in der Gegenwart der Sinnen-Erfahrung unmittelbar zugänglich sind. Die Vorstellung hingegen betrifft solche Gegenstände, die sich dieser unmittelbaren Sinnen-Erfahrung entziehen. Wenn Matheo in Brasilien weilt oder sich unter dem Tisch verborgen hält, kann ich nur ein Bewusstsein von ihm haben im Modus der Vorstellung. Sitzt er mir jedoch gegenüber, habe ich ein Bewusstsein von ihm in Form der Wahrnehmung.

Vorstellung und Wahrnehmung sind nun nicht etwa zwei verwandte psychische Niveaus, sondern sie stellen zwei nicht reduzierbare Haltungen des Bewusstseins dar. Sie schließen sich gegenseitig aus. Sartre gibt hierfür das Beispiel eines realistischen Gemäldes, das ich in dem Maße nicht mehr als Gemälde wahrnehme, wie ich von der Vorstellung des abgebildeten Gegenstandes affiziert werde. Dies hat für die Musik entscheidende Konsequenzen. Geht man in der Rezeption eines Musikstückes über die Aktualität einer Tonfolge hinaus und hört nicht nur einzelne Klänge und deren unmittelbaren Zusammenhang als gegenseitige Existenzbedingung, so überschreitet man den Akt des Wahrnehmens hin zum Akt des Realisierens. Das nicht gegenwärtig Gegebene wird in diesem als dennoch real erfasst. Im Akt des Vorstellens hingegen wird das Vorgestellte zunächst ausdrücklich als Nichts gesetzt, um es danach erst als Bewusstseinsleistung zu konstituieren.

Erinnerung und Antizipation sind nun beim Hören nicht Vergangenheit und Zukunft des Bewusstseins selbst, sondern sind Vergangenheit und Zukunft seines Gegenstandes, des Musikstückes. Dies macht die Musik zur notwendig irrealen Kunstform, die ihr Sein einzig in der Vorstellung hat. Prononciert gesagt hat die Musik für den Hörer keine Existenz, sie ist ganz im Imaginären.

Nun gilt aber das hier Ausgeführte in dieser Ausschließlichkeit einzig für solche Musik, die vom strukturell hörenden Experten sinnvoll rezipiert werden kann. Solche Musik, die sich den Gesetzen der Musik als Tonkunst widersetzt und die der Hörer aufgrund ihrer statischen Formanlage und/oder zeitlichen Ausdehnung nicht als Ganzes zu realisieren vermag, ist nicht als Vorstellung, sowenig sie als reine Wahrnehmung ist.

Die Werke des reduktiven Minimalismus zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie das Sein des hörenden Bewusstseins zum Gegenstand ästhetischer Reflexion machen und damit ihr eigenes ontologisches Dilemma als musikalisches Kunstwerk zu überwinden trachten. Wenn es, wie oft intendiert, gelingt, zu Hörendes, Hören und Hörenden in einer Zeitlichkeit zu integrieren, verwischen sich die Grenzen von Erinnerung und Antizipation einerseits und Vorstellung andererseits. Dennoch sind Vergangenheit und Zukunft nie an sich selbst, sondern tauchen erst als Weisen eines Seins auf.

Volker Straebel 05.02

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in: Programmbuch Moments Musicaux Aarau 2002
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