Musik als Collage

Dem Klangpionier Pierre Henry zum 70. Geburtstag

Ein ungeduldiges Klopfen, gefolgt von drei Schüssen, dann der unverständliche Ruf eines Mannes. Wieder Klopfen, zwei Schüsse, eine Frauenstimme. Klopfen, nur ein Schuß, Männerstimme. Polizeisirenen, Klänge eines präparierten Klaviers, Verkehrsgeräusche, wieder das Klopfen, schließlich der Ruf vom Beginn. Der Anfang der Symphonie pour un Homme Seul, die Pierre Schaeffer und Pierre Henry 1950 im Club d'Essai, dem Experimentalstudio des Radiodiffusion Française in Paris aufnahmen, gräbt sich ins Gedächtnis. Die einfache musikalische Struktur einer sich in der Wiederholung zunehmend verdichtenden dreigliedrigen Motivkette eröffnet das gut halbstündige Werk aus Alltagsgeräuschen, vom Radio unsauber aufgenommenen Musikbruchstücken und Stimmfetzen, das eigentliche Gründungsstück der musique concrète.

Alles daran war neu. Auf der Bühne der Ecole Normale de Musique in Paris saßen bei der Uraufführung am 18. März 1950 nicht Musiker, sondern Toningenieure an ihren Plattenspielern und Mixern. Und nicht auf Orchesterinstrumenten künstlich erzeugte Töne, sondern das ganze Spektrum der uns umgebenen Klänge nutzten sie als Material für ihre Kompositionen. Damit traf diese Lautsprechermusik den Nerv ihrer Zeit, sie kündete von Lebendigkeit wie Bedrohlichkeit der nach dem Krieg erwachenden Städte. 1955 wurde Maurice Béjart durch seine umjubelte Choreographie der Symphonie bekannt, im gleichen Jahr ging die Merce Cunningham Dance Company mit dem Stück in Kalifornien auf Tournee.

Der als Toningenieur ausgebildete Schaeffer war Gründungsvater und Theoretiker jener Musik aus konkreten Klängen, deren erste Studien 1948 im französischen Radio zu hören waren. Im Jahr darauf stieß der gerade 22jährige Pierre Henry hinzu. Dieser hatte bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen Komposition studiert und war an Schlagzeug und Flügel als Orchestermusiker aufgetreten, ehe er sich ganz der Tonbandmusik verschrieb. Im Club d'Essai entstand eine Vielzahl musikalisch strukturierter Collagen mit ihren typischen Schleifen und abrupten Schnitten. 1958 trennte sich Henry von Schaeffer und gründete sein eigenes Studio "Apsome", in dem er auch rein elektronische Klänge erzeugte. Doch galt sein Hauptinteresse weiter den konkreten Klängen, die er in einer legendären Tonbandbibliothek zusammentrug. Diese lieferte das Material für Schlüsselwerke der elektroakustischen Musik wie Variation pour un porte un soupier (1963), das Aufnahmen einer knarrenden Tür, eines Seufzers und des Schlages auf eine Singende Säge in 25 Variationen zusammenfügt.

Seit den siebziger Jahren beschäftigt sich Pierre Henry verstärkt mit audiovisuellen und theatralischen Produktionen. Das Laserspektakel seiner Noces Chymiques eröffnete 1983 die Pariser Opera Comique. Die in den vergangenen 15 Jahren entstandenen Stücke sind der Soundscape-Bewegungen verpflichtet, die in ruhigen Hörbildern charakteristische Klanglandschaften dokumentiert, ohne jedoch an musikalischer Rafinese einzubüßen (La Ville, 1984). Im August wurde Henry in Donaueschingen, in dem er 1953 mit Orphée 53 für einen veritablen Skandal gesorgt hatte, mit dem Karl-Sczuka-Preis des Südwestfunks ausgezeichnet. Heute [9.12.1997] begeht der Pionier der musique concrète seinen siebzigsten Geburtstag.

Volker Straebel 12.97

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leicht verändert in: Der Tagesspiegel (Berlin), 9.Dez. 1997
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