Abgestempelt

Eine Glosse

Auch der Kulturjournalist ist ein Reporter. Zumindest, wenn er sich anschickt von den künstlerischen Segnungen der Gegenwart zu berichten. Zum Beispiel von Zeitgenössischer Musik (nur davon kann ich reden). Hört also das Repertoire nicht bei Mahler auf, sondern fängt es mit Stockhausen an, sind wir - auf der steten Pirsch nach dem Unbekannten und Bedeutenden - bald gehalten, unsere Beute außerhalb des bürgerlichen Konzertbetriebs zu suchen. Und auf dessen Annehmlichkeiten zu verzichten.

Sie würden gern die Partitur mitlesen? Selbst bei Liederzyklen sitzen Sie im Hebbel Theater im Dunkeln. Aber das macht fast gar nichts. Programmhefte, denen man die fremdsprachigen Texte entnehmen könnte, gibt es eh nicht mehr. Wozu auch, es kommen wohl ohnehin nur Experten. Sie sind gewohnt, Ihre Garderobe abzugeben? Zumeist sitzen Sie auch im Winter schön warm, mit dem Mantel auf den Knien. (Gut, in New York ist das auch so, aber dafür fährt man in Berlin auch nicht mit der Stretch-Limo vor. Und am Broadway gibt's schließlich Klimaanlagen, die manchmal empfindlich kühl sind).

An all das also hatten wir uns gewöhnt. Doch nun bekommt man im Podewil, ganz wie bei nächtlichen Tanzvergnügungen, einen Stempel auf die Hand gedrückt. Wegen der Pause, wie man uns höflich aber bestimmt erklärt. Ja, wie machen die das eigentlich in der Oper? Aber gut, fürs Podewil bleibt das weiße Hemd halt im Schrank, wir schmuddeln uns die Stempelfarbe in dunkle Manschetten und alles ist in Ordnung. Oder auch nicht. Denn seit wir unsere Aufmerksamkeit auf den semantischen Gehalt dieser Abdrücke auf nacktem Fleische richten, kennt unsere Verwunderung keine Grenzen. Drucksache lesen wir da am Handgelenk, oder Büchersendung. Der Intellektuelle fühlt sich geschmeichelt. Aber Luftpost? Oder - Verzeihung! - Presse? Manchmal wird daraus allerdings, ohne Absicht noch, unvermittelt Kunst, und das Fräulein mit dem Stempelkissen mutiert plötzlich zur Performormerin: Nur hier zu öffnen stand da letzthin auf meiner Pulsader. Wir sind auf Steigerungen gespannt.

Volker Straebel 7.98

up     home

leicht verändert unter dem Titel "Abgestempelt", in: Der Tagesspiegel (Berlin), 21.Juli 1998
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission