Kunst der Reduktion

garonne (24) für sich - Konzert und Videoinstallation
von Carlo Inderhees und Christoph Nicolaus

Seit der Komponist Carlo Inderhees 1996 aus Köln nach Berlin zog, machte er mit zwei musikalischen Projekten auf sich aufmerksam, deren Ausdehnung in der Zeit den üblichen Rahmen konzertanter Aufführungen bei weitem sprengen. In der ersten Woche des Jahres 1997 begann seine konzeptionelle Konzertreihe 3 Jahre - 156 Musikalische Ereignisse - Eine Skulptur, in der bis zur letzten Woche des Jahres 1999 jeden Dienstag um 19.30 Uhr in der Zionskirche in Berlin-Mitte ein solistisches, etwa zehnminütiges Werk zur Uraufführung gelangt. Außerdem wird vor jedem dieser "Musikalischen Ereignisse" gemäß postalischer Instruktion von dem in München lebenden Bildhauer Christoph Nicolaus die Lage einzelner Steine verändert, die im Aufführungsraum eine Bodenskulptur bilden. Während Inderhees hier nur die globale Struktur des drei Jahre dauernden Geschehens festlegte - der Komponist spricht von einem Einsatzabstand von 168 Stunden - und rund dreißig seinem Reduktiven Minimalismus nahestehenden Komponisten die Gestaltung der Einzelereignisse überläßt, ist sein vierundzwanzigstündiges für sich (Violoncello)1-24 hingegen genau fixiert. Für dessen Uraufführung in diesem Sommer verteilte er die 24 Einzelwerke auf 24 Tage, begann am ersten Tag um Mitternacht, am folgenden um ein Uhr früh, danach um zwei und sofort, und durchmaß so nach und nach alle Stunden des Tages in 24 einstündigen Konzerten.

Der genaueren Betrachtung von Werk und Uraufführung von für sich (Violoncello)1-24 sei jedoch die Beschreibung der kompositorischen Entwicklung von Carlo Inderhees vorangestellt, die dorthin führte. 1955 in Castrop-Rauxel geboren, studierte Inderhees in Cottbus und Dresden, ehe er vor allem als Pianist experimenteller und improvisierter Musik in Erscheinung trat. Seit 1981 schuf er Bühnenmusiken und arbeitete an Inszenierungen für das Sprechtheater mit - eine Tätigkeit, die er auch nach der Übersiedlung nach Köln 1986 am dortigen und am Düsseldorfer Schauspielhaus fortsetzte. In den Jahren 1990 bis 1994 führte sein wachsendes Interesse am instrumentalen Klangmaterial zur intensiven Beschäftigung mit Multiphonics, mit Mehrklängen also, die bei Kontrabaß und Cello entstehen, wenn eine Saite stärker als beim Flageolett, aber doch nicht ganz niedergedrückt wird, oder die Holzbläser mit ungewöhnlichen Griffen erzeugen. Diese Hinwendung zum Klang mündete allerdings in eine kompositorischen Krise. Denn die Konzentration auf den Einzelklang forderte auch neue Lösungen auf der strukturellen Ebene. Der Werkkomplex Steinschatten macht dies deutlich:

1991/92 komponierte Inderhees das siebenminütige Bassflötensolo Steinschatten, das in klangsinnlichem, ruhigem Verlauf den leisen Dynamikbereich auslotet. Whistle-Tons, Tongue-Rams, Mehrklänge, Lufttöne und Schwebungsklänge, die aus simultanem Spielen und Singen resultieren, zeugen von differenziert auskomponierter Klanggestaltung. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Klangcharaktere mit einer expressiven Abfolge musikalischer Einzelereignisse scheinen die Klänge diese jedoch nur zu instrumentieren. Die Klänge entfalten keine vom musikalischen Kontext ihres Erscheinens zu lösende, eigene Qualität.

In dem Zyklus Steinschatten 2-6 für Flöte und Bassflöte solo unternahm es Inderhees im Sommer 1995, zu den Klängen selbst vorzudringen. Von der drei Jahre alten Vorlage des Bassflötensolos ausgehend egalisierte er zunächst die Dynamik und ersetzte expressive, ursprünglich mit dynamischer Steigerung verbundene Passagen durch den immer gleichen Liegeton d1 entsprechender Dauer (bis zu 26 Sekunden). Steinschatten 3 markiert nur noch den Beginn vormals längerer Klänge mit einem Sechzehntel, übernimmt dafür aber wieder die dynamische Differenzierung des Originals. Diese fehlt wieder im Folgestück. Dort gibt es nur noch die Klangtypen des natürlichen Tones zu Beginn, Lufttöne im Mittelteil und Pizzicati am Ende. Außerdem wird der Ambitus im Verlauf des Stückes immer weiter eingeengt. Steinschatten 5 egalisiert die Einsatzabstände der natürlichen Töne auf vier, der Lufttöne auf zwei und der Pizzicati auf eine Sekunde, und Steinschatten 6 kennt keine Diasthematik mehr, das Stück ist auf die Abfolge von g1 reduziert, wobei verschiedene Griffe für einen Wechsel der Klangfarbe von Ton zu Ton sorgen.

Die zunehmende Reduktion sowohl auf der Ebene des Materials als auch auf der der Struktur führt zur Konzentration auf den Einzelklang. War die individuelle Gestalt eines Instrumentalklanges bislang nur Akzidens zum akustisch realisierten Ton gewesen, so macht Inderhees nun den Klang und seine instrumentale Hervorbringung zu einem wesentlichen Gegenstand des Werkes. Dabei werden diese nicht in der Manier überdeterminierter Partituren bis ins Detail hinein fixiert. Nicht der musikalische Imagination, die in der Partitur niedergelegt ist und der sich eine Aufführung nur annähern kann, gilt das Interesse des Komponisten, sondern der Realität des Klanges in seiner jeweils einmaligen Realisation. So versteht Inderhees den nie perfekten Interpreten in der Konzertsituation keinesfalls als bloßen Mittler eines Tongefüges. Der Musiker bringt den Klang in die Welt. Aus der Dichotomie von deren Widrigkeit und der durch das Spiel leuchtenden musikalischen Absicht bezieht der Reduktive Minimalismus seine ästhetische Spannung.

Die 24 Stücke von für sich (Violoncello)1-24 dauern jeweils eine Stunde. In jedem Stück erklingt jeweils ein, von den in den anderen Stücken verwendeten verschiedener Multiphonic äußerst leise auf dem Solo-Cello, gefolgt von einer Pause gleicher Dauer. Die kürzeste Dauer beträgt eine Minute (dreißig Klänge und Pausen), die längste dreißig Minuten (ein Klang gefolgt von einer Pause). Inderhees verwendet nur jene Dauern, mit denen ein einstündiges Stück vollständig mit dem gleichmäßigen Wechsel von Klang und Pause ausgefüllt werden kann: 1, 2, 3, 5, 10, 15 und 30 Minuten. Diese Dauern sind einer Glockenkurve folgend statistisch auf die 24 Stücke verteilt mit einem Maximum auf den mittleren Dauern(1). In den Multiphonics dominiert jeweils ein Teilton, und zwar der fünfte, siebente, achte, neunte oder elfte der G-, d- oder a-Saite; die C'-Saite findet wegen ihrer größeren Trägheit keine Verwendung. Einem Teilton werden ein bis drei verschiedene Griffe zugeordnet, so daß der gleiche Teilton in bis zu drei verschiedenen Stücken auftreten kann, jedoch stets im Kontext verschiedener Multiphonics erklingt. Die Zuordnung der Klänge zu den Dauern überließ der Komponist dem Zufall, ebenso die Reihenfolge der Einzelstücke im Gesamtzyklus.

Multiphonics sind keine festen und sicheren Töne, vielmehr - besonders bei leisem Spiel - brüchige Klänge, die sich schon bei geringer Veränderung von Bogendruck, -geschwindigkeit oder Ansatzstelle des Bogens gewaltig wandeln. In langer Ausdehnung erscheinen sie nicht als starre Entität, sondern als changierende Klanggestalt, in der immer wieder andere Teiltöne hervortreten oder in sachtes Rauschen zurückfallen. Diese Klangwechsel werden vom Cellisten nicht absichtsvoll gestaltet. Sie ereignen sich ebenso wie die Umweltgeräusche in den bis zu halbstündigen Pausen. Bei der Uraufführung im Saal der Sophiengemeinde in Berlin-Mitte vom 17. Juli bis 9. August 1998 saß der junge Cellist Placidus Schelbert vor zwei zu einem Park hin geöffneten Fenstern - die Musik öffnete den ihr sonst eigenen, hermetisch vom Leben abgegrenzten Raum hin zur Welt. Deren Geräusche färben Klang wie Stille, verschmelzen in der kognitiven Repräsentation des Hörers mit dem im minutenlangen Warten erinnerten oder antizipierten Celloton und werden selbstverständlicher Teil der ästhetischen Erfahrung. Seine schöpferische Krise überwand Carlo Inderhees, indem er die Perspektive wechselte vom die musikalische Faktur imaginierenden Komponisten zum die Klangrealität erfahrenden Hörer. Wie Cage es einmal formulierte, komponiert er nun, um zu hören.

Daß die Dauer der kleinsten musikalischen Einheit in für sich (Violoncello)1-24 bei einer Minute liegt, macht die üblichen Beschreibungsformen Metrum oder Rhythmus unbrauchbar. Die Musik liegt nicht mehr im Verhältnis der Ereignisse zueinander, sondern in ihnen selbst und - hier ist das jüngere Werk von Inderhees dem von Antoine Beuger verwandt - in den Brüchen zwischen Klang und Stille. Dauert eines dieser Ereignisse nur lang genug, kann man sich als Hörer irgendwann kaum mehr vorstellen, daß es zu Ende gehen könnte. Dieser Moment, in dem der Cellist dann doch - nicht etwa in sachtem Crescendo, sondern mit klarem Aufstrich - den Ton in die Stille setzt, die zu verlieren man bedauern mag, oder in dem umgekehrt der Ton verklingt, den man noch lange in der Erinnerung zu hören vermeint, wird zum eindringlichen Erlebnis.

Kontinuität sicherte hingegen die stumme Video-Installation garonne 24 aus 55 von Christoph Nicolaus, die die Uraufführungskonzerte begleitete. Zu den konzeptionellen Sammlungsprojekten des Bildenden Künstlers gehört die 1996 begonnene Reihe von Videoaufnahmen verschiedener Flüsse, die sich über die Zeit hin geographisch immer weiter ausdehnt und verästelt. Hierfür richtet er eine Videokamera von einer Brücke genau senkrecht auf den Flußlauf, zoomt diesen nah heran, stellt die Kamera auf Autofocus und beginnt die Aufzeichnung. Diesen Vorgang wiederholt Nicolaus auf der anderen Seite der jeweiligen Brücke, so daß der Fluß einmal auf den Betrachter zu-, einmal von ihm fortfließt. Die Dauern der so entstandenen Filme, die wegen des kleinen Bildausschnittes und mangelnder Schärfe ihren Gegenstand nicht sofort preisgeben, wird von der Leistungsfähigkeit des Akkus bestimmt (im vorliegenden Fall mindestens 60 Minuten).

An jedem Tag der Uraufführung von für sich (Violoncello)1-24 zeigte Nicolaus eine andere Kombination von sechs Filmen seiner Sammlung auf einer an der rechten Seite des Saales auf dem Boden plazierten Reihe von Monitoren. In Abhängigkeit von der Fließgeschwindigkeit sich mehr oder weniger rasch ändernde Verläufe von weichen Blau-, Grün- oder Grautönen, die mitunter von plötzlich wechselnden Reflexionsflächen unterbrochen werden, je nach Reaktion des Autofocus' mehr oder weniger scharfe Bilder sich kräuselnder Wasseroberflächen oder von Regentropfen erzeugte Wellenkreise prägen das Bild. So erscheint der Fluß als Metapher des ewig Gleichen und doch stets Verschiedenen in überzeugend einfacher visueller Repräsentation. Die Reihe sechs verschiedener Flußbilder bringt zudem Aufnahmen verschiedener Orte und Tage in neuer Gleichzeitigkeit in einer Installation zusammen, was diese als eigenständige, die Werke von Inderhees allenfalls begleitende Arbeit erscheinen läßt. Die konzeptionelle Verbindung beider Medien, die der eine Gemeinschaftsarbeit suggerierende Titel garonne (24) für sich eigentlich nahelegt, wird so (leider) bewußt vermieden. Denn hätte man täglich einem Multiphonic die Videobilder eines Flusses (in beiden Fließrichtungen) gegenüberstellt, die strukturelle Verknüpfung von Komposition und Installation wäre in seltener Schlüssigkeit gelungen.

Volker Straebel 99


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leicht verändert unter dem Titel "Kunst der Reduktion. Carlo Inderhees' für sich", in: Positionen Nr. 38 (1999)
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkung

(1) 2 x 1', 3 x 2', 5 x 3', 5 x 5', 4 x 10', 3 x 15', 2 x 30' - In dem kompletten Zyklus für sich (Violoncello)1-25 gibt es ein weiteres Stück von zehn Minuten Dauer, so daß die Dauernverteilung genau symmetrisch ist,