Zahlenspiele

Uraufführungen von Hanne Darboven im Hamburger Bahnhof

Daß die Künste nicht mehr allein durch das Medium ihrer Realisation von einander abzugrenzen sind, ist eine dieses Jahrhundert bestimmende Erfahrung. Besonders seit sich serielles Komponieren und konzeptionelle Kunst in beider Form konstituierenden Zahlenkalkulationen trafen, finden sich Übersetzungsversuche zwischen visueller und akustischer Kunst allenthalben. Die Verknüpfung beider Medien liegt dabei auf der Ebene der Genese, nicht der Rezeption. Hör- und Sehsinn erwiesen sich als zu unterschiedlich strukturiert, als daß über einfache Formmerkmale hinausgehende synästhetische Wahrnehmungen zu erzielen wären.

Daher ist die Wahl des Verfahrens, mit dem eine Bildende Künstlerin wie Hanne Darboven ihre Zahlenkolonnen in Musik übersetzt, weniger eine logische als eine ästhetische Entscheidung. Darbovens Künstlerbücher sind handgeschriebene Konvolute, voll von langen Tabellen mit Aufzählungen von Kalenderdaten, Quersummenberechnungen oder Textzitaten. Die Zahlenreihen überträgt Darboven in eine dem Notensystem angelehnte Notation, wobei 1 dem Ton e, 2 dem Ton f und so fort bis zur Oktave 9 entspricht. "Neun Töne reichen mir, und zwar in weiß" beschrieb die Künstlerin einmal ihr klingendes Material als die weißen Tasten des Klaviers.

In diesem erschöpfte sich dann auch das Konzert mit Kompositionen Darbovens, mit dem das von Christian von Borries neu gegründete Orchester "Generation Berlin" die Reihe "Musikwerke Bildender Künstler" im Hamburger Bahnhof eröffnete. Die modale Anlage des Übersetzungsverfahrens führt zur Reduktion des harmonischen Materials auf die immer gleichen drei Dur- und drei Moll-Dreiklänge nebst einem verminderten, das Metrum verharrt im nur selten triolisch gebrochenen Viervierteltakt mit gelegentlichen Punktierungen und Trommelbaß-Repetitionen. Im hommophonen Satz werden in zäher Gleichförmigkeit Dreiklangsbrechungen und Tonleiterausschnitte abgespult, Stufendynamik unterstreicht die einfache, durch Generalpausen gegliederte Großform.

Darbovens Musik könnte als minimalistisch und konzeptionell überzeugen, würde nicht ihr musikalischer Mitarbeiter Friedrich Stoppa aus den visuellen Vorlagen nicht abzuleitende rhythmische Variationen, Triller und gar Terzparallelen (Streichquartett op.26, Uraufführung des Requiems für Orgel (und Instrumente), opp.19 und 20) hinzufügen. In den hier klangsinnlich uraufgeführten Symphonien für Kammerorchester opp. 38a und 38b (1991/93) verkommt so die herbe Struktur Darbovens vollends zur süßlichen barockisierenden Apotheose der Sequenz.

Volker Straebel 4.99

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leicht verändert unter dem Titel "Fremdklänge" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 30. April 1999
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