Musik als Geheimnis

Performance-Installation "Truth in Clouds" von Nicolas Collins im Podewil

Im zweiten Stock des Podewil, dort, wo das Auditorium üblicherweise nicht hingelangt, öffnet sich derzeit dem neugierigen Besucher eine dämmrige, langgestreckte Suite von irritierend altertümlicher Atmosphäre. Da stehen alte Koffer aufgetürmt, bietet ein Pianino, auf dem zwei Kerzen flackern, stumm seine Tasten feil, und vorbei an Polstern und Tischchen des vergangenen Jahrhunderts führt der Weg zu einer Rotunde, in der im Dunkel verschwommene Gestalten um einen Tisch versammelt sitzen. Unversehens scheinen wir in eine spiritistische Sitzung geraten zu sein, denn zu den Klängen einer indifferent melancholischen Musik schiebt die Gruppe ein umgestülptes Weinglas auf dem Tisch hin und her und starrt auf das dunkle Holz, auf dem einzelne Wörter und Phrasen erscheinen. Gedankenverloren nehmen wir auf einem der mit weißen Überwurftüchern verhangenen Stühle Platz und eine Schrift bedeutet uns, mit den Fingerspitzen das Glas zu führen. Rauscht es da nicht aus der gewaltigen Zimmerpalme? Klingt da nicht ein Klavierakkord aus der längst stehengebliebenen Standuhr? Wir schieben das Glas und lesen, langsam, Wort für Wort aus dem Jenseits: "Er liebt mich nicht, aber er bedauert es." Ungläubig blicken wir auf und erkennen gegenüber, tief in ein Fauteuil geschmiegt, Ursula Block, die wissend lächelt.

Auf der Premiere der Performance-Installation "Truth in Clouds" nahm die Neue-Musik-Szene Berlins dankbar den Salon in Besitz, den der New Yorker Nicolas Collins ihr mit zurückhaltendem Charm bereitet hat. Die eigentlichen Akteure sind hier die Besucher, die nicht nur über das Weinglas eine komplizierte Computeranlage steuern, sondern nahezu Darstellen gleich die Atmosphäre prägen. Christina Kubisch schreitet ruhig daher und Ute Wassermann blickt versunken auf eine Blumenvase, aus der schepperndes Belcanto dringt, während hinter dem Paravent ein Trio des Kammerensembles Neue Musik sich in kurzen Schleifen aus barocken Floskeln ergeht.

Winfried Rager (Klarinette), Magdalena Zimmerer (Harfe) und Ringela Riemke (Cello) spielen in wechselnder Kombination aus einem Repertoire von 16 Werken von Renaissance bis Romantik, wobei kleine Compterdisplays an ihren Notenpulten anzeigen, ob sie - jeweils individuell - Tempo oder Lautstärke variieren, Schleifen oder melodische Phrasen spielen, diese verlängern oder verkürzen sollen. Collins wählte charakteristisches aber wenig bekanntes Material, das er nach Art seiner manipulierten CD-Player nun in instrumentalem Live-Scratching destruiert. Es entstehen unabhängige, nur durch ihre Stilmerkmale verbundene Klangschichten, die, wohl auch wegen der wenig idealen Raumsituation, das Geschehen zu sehr dominieren. Die liebevollen kleinen akustischen Irritationen vom Schwebungssummer hinter einer Staffelei bis zu den aus einer Posaune dringenden Naturklängen geraten so leider in den Hintergrund und geheimnisvoll bleibt weniger, was wir hören, als wie dieses mit der Bewegung des Weinglases zusammenhängt. Das behält der Komponist, der als erfahrener Klangkünstler all zu einfache Interaktionsmodelle zu vermeiden versteht jedoch für sich. Wie die Forscher des 19. Jahrhunderts, die mit ihren Theorien über die Natur elektrischer und magnetischer Phänome die thematische Folie für "Truth in Clouds" bilden, sind wir auf Spekulation verwiesen.

Volker Straebel

up     home

leicht verändert unter dem Titel "Wolkige Wahrheit" in: Der Tagesspiegel, 5.Febr. 1999
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission