Vom Sterben Cages

Bemerkungen zu einigen Problemen der gegenwärtigen Cage-Forschung
anläßlich des John Cage Symposiums an der Hochschule der Künste Berlin (23. - 25.11.95)

John Cage ist seit drei Jahren tot. Das klangliche Moment vieler seiner Kompositionen ist es schon weitaus länger. Obwohl der Komponist noch hätte Auskunft geben können, waren viele Stücke bereits zu seinen Lebzeiten unaufführbar geworden, teils aus technischen Gründen, teils wegen der geschichtlichen Situation ihrer Entstehung. Einige Partituren schließlich, obgleich in der Forschung immer wieder als Zeugnisse der Überwindung des Werkbegriffes angeführt und als "offene Form" beschrieben, sind eben jenes nicht, das man ihnen noch heute gern unterstellt: Aufführungsvorschrift zur Reproduktion eines eigentlich bereits überwundenen Werkes.

Authentische Aufführung

Viele Referate und Diskussionen des international besetzten John Cage Symposiums, das im November in der Hochschule der Künste Berlin stattfand, gingen mehr oder weniger direkt auf das Problem der Aufführungspraxis von Werken John Cages ein. Die Frage nach der Authentizität einer Aufführung, sonst eher auf dem Gebiet der Alten Musik gestellt, macht deutlich, wie historisch der Cage-Forschung ihr Gegenstand bereits geworden ist.

So forderte Deborah Campana, die das John Cage Archive an der Northwestern University in Evanston, Illinois betreut, die systematische Sammlung und Erfassung aller Quellen, die aufführungspraktische Hinweise für zukünftige Cage-Interpreten bieten könnten. Dies dürften neben historischen oder gar "autorisierten" Tondokumenten vor allem Äußerungen von Cage und solchen Interpreten sein, mit denen er eng zusammenarbeitete.

Doch die Bewertung solcher Quellen ist - und das scheint in der Cage-Forschung erst langsam zu Bewußtsein zu gelangen - nicht unproblematisch. Es ergeben sich hier alle Schwierigkeiten der Oral History, der Ungenauigkeit der erinnerten Auskunft und des bewußt oder unbewußt erhobenen Wahrheitsanspruches eines von Eingeweihten oft zu hörenden "as John told me".

Auch muß dieser Wunsch nach historischer Authentizität durchaus nicht verbindlich sein. Eberhard Blum, als Interpret seit zwei Jahrzehnten mit der Musik Cages vertraut, betonte in einer Diskussion während des Symposiums, daß nur das in der Partitur Fixierte für ihn Bedeutung habe. So ist denn auch seine Realisation des Fontana Mix (1958) für Flöten von 1992(1) weit weniger komplex als Cages eigene Umsetzung für Vierkanaltonband aus dem Entstehungsjahr(2). Solche völlige Herauslösung einer Komposition aus dem werkgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung öffnet jedoch den geschmäcklerischen Vorlieben des Interpreten Tür und Tor. Anläßlich einer Klavieraufführung der Variations I (1958) gab etwa Siegfried Mauser 1994 an, er habe seine Realisation wie Feldman klingen lassen wollen und daher das Ausgangsmaterial entsprechend gewählt.(3)

Präpariertes Klavier

Auf elementarerer, nämlich klanglicher Ebene liegen die Schwierigkeiten der Aufführungen von Kompositionen für Präpariertes Klavier. Da in den Präparationstabellen, die Cage diesen Partituren voranstellte, der Ort, an dem ein bestimmter Gegenstand zwischen zwei Saiten fixiert werden soll, als von den Dämpfern aus gemessene Entfernung angegeben ist, variiert der resultierende Klang bei verschiedenen Flügeln mit unterschiedlichen Saitenlängen. Und während zumindest in den 60er Jahren die jeweiligen Präparationssätze bei Cages Verleger C. F. Peters New York zu Referenzzwecken zur Verfügung standen(4), muß heute von abweichenden akustischen Eigenschaften der verwendeten Objekte ausgegangen werden.

Hier gilt es tatsächlich, sich für oder wider das Anstreben historischer Authentizität zu entscheiden. Denn unter Zuhilfenahme verhandener Tondokumente und Äußerungen von Zeitzeugen mag die Rekonstruktion der von Cage gewünschten Klänge in gewissem Rahmen durchaus möglich sein. Andererseits beschrieb Cage selbst im Anschluß an eine seiner Norton-Lectures 1988/89, wie sich seine Einstellung zu Aufführungen seiner Werke für präpariertes Klavier über die Jahre gewandelt hatte. Lehnte er es nach einer schlechten Erfahrung mit The Perlious Night (1944) ab, diese Kompositionen mit einer "fremden", nicht authentischen Präparierung zu hören, so konnte er später gerade das Neue der so nicht intendierten Klänge genießen. Er interpretierte dies als seine Befreiung von der Erinnerung und als gestiegenes Interesse am Erleben.(5)

Instrumentation

Eine ähnliche Situation stellt sich den Interpreten der Kompositionen für Perkussion aus den 30er und 40er Jahren dar. Cage hatte diese Werke für sein Perkussionsensemble geschrieben, das bei Aufführungen auf einen Fundus von etwa 150 Instrumenten zurückgreifen konnte.(6) Geht man davon aus, daß für genau diese Instrumente komponiert wurde, erscheinen die Angaben zur Instrumentation in den seit den 60er Jahren veröffentlichten Partituren äußerst ungenau zu sein, obgleich sie in dem für Perkussionsinstrumente üblichen Rahmen bleiben. In diesem Zusammenhang berichtete András Wilheim in seinem Referat, daß er in den 80er Jahren für die Aufführung eben dieser Stücke für Perkussionsensemble mit Cage zusammen die Klanglichkeit der damals verwendeten Instrumente möglichst genau zu rekonstruieren versuchte. So galt es etwa Größe und Form der häufiger geforderten fünf Konservendosen zu berücksichtigen.

Ein schwerer wiegendes Problem stellte sich jedoch in der Frage nach dem gültigen Notentext selbst. In dem erhaltenen Stimmenmaterial der Uraufführung finden sich offenbar während der Proben vorgenommene Änderungen, die nicht in die später veröffentlichte Partitur übertragen wurden. Die Forderung nach einer kritischen Ausgabe dieser Werke ist also nur zu berechtigt, wiewohl das Projekt einer kritischen Gesamtausgabe dem Wesen von Cages Œuvre zuwiderläuft.

Schließlich gibt es Stücke, die nicht mehr aufführbar sind, und solche, deren wiederholte Aufführung offensichtlich von Cage nicht vorgesehen war. Ein einfaches Beispiel hierfür ist Imaginary Landscape No. 1 für Schallplatten konstanter und variabler Frequenz, große chinesische Zimbel und Piano (1939). Die Aufführungsvorschrift gibt an, das Stück sei in einem Radiostudio zu spielen und dann zu senden und/oder aufzuzeichnen.(7) Während der für die Aufführung geforderte Ort sich aus der technischen Situation der Entstehungszeit des Werkes verstehen läßt(8), verwundern die Informationen zu den abzuspielenden Schallplatten mit Testtönen, die aus Plattennummern und unvollständigen Frequenzangaben bestehen. Denn als Cage die Partitur 1960 zum Druck gab, waren diese Testplatten längst nicht mehr im Handel erhältlich, und die aufgeführten Daten zu spärlich, um die gewünschten Klänge auf anderem Wege synthetisch zu erzeugen.(9)

So liegt die Vermutung nahe, daß Cage diese Partitur ausschließlich aus dokumentarischem Interesse und zu Studienzwecken veröffentlichte. Denn auch auf seinem Jubiläumskonzert 1958 wurde Imaginary Landscape No. 1 nicht live aufgeführt, sondern die wahrscheinlich 1939 im Radiostudio aufgenommene Schallplatte abgespielt.(10)

Unaufführbarkeit

Einige Partituren, die Cage erst nach der Uraufführung des jeweiligen Stückes notierte, stehen schließlich am Übergang von der dokumentierenden Beschreibung einer zurückliegenden Performance zur Partitur als eigenständigen künstlerischen Äußerung, die nicht Ausführungsvorschrift ist und vielleicht als "musikalische Poesie" zu benennen wäre.

Die Verbalpartitur Variations V etwa, zwei bis drei Monate nach der ersten Aufführung 1965 niedergeschrieben, enthält "37 Bemerkungen über eine audio-visuelle Performance" (Untertitel). Die Anzahl der Bemerkungen, sowie ihre jeweilige Länge (Anzahl der Wörter) wurde durch Zufallsoperationen bestimmt.(11) Gegenstand der Komposition ist hier also weniger ein musikalisches Geschehen, als vielmehr der Partiturtext selbst. Obwohl Cage diesen als "Richtlinie für eine zweite Aufführung"(12) bezeichnete, schafft er sich doch als Aufführungsvorschrift selbst ab, wenn er eine "Aufführung ohne Partitur oder Stimmen"(13) vorschreibt.

Es ist also zu bezweifeln, daß ein - wie weit auch immer gefaßtes - musikalisches Objekt jenseits des Partiturtextes, auf das dieser nur verweist, weiter existiert. Variations V wäre dann unaufführbar, nur die Performance gleichen Titels vom 23. Juli 1965, auf die die Verbalpartitur Bezug nimmt, könnte zu rekonstruieren versucht werden. Dafür wäre die Partitur jedoch nur ein Dokument unter anderen.(14)

Eindeutig unaufführbar sind endlich solche Stücke Cages geworden, die nicht als Partitur fixiert vorliegen. Sicherlich ließe sich argumentieren, daß in Cages Nachlaß viele Aufzeichnungen zu unveröffentlichten Stücken aufbewahrt werden, die manche seiner veröffentlichen Partituren an Präzision übertreffen (man denke etwa an WGBH-TV (1960), dessen Partitur aus einem photokopierten, mit handschriftlichen Notizen versehendem Briefwechsel besteht). Doch stellt es eben einen qualitativen Unterschied dar, ob ein Komponist sein Aufführungsmaterial zur Partitur erklärt oder nicht. Schließlich ist eine Partitur stets mehr als bloße Anleitung, ein musikalisches Geschehen hervorzubringen.

Das Verschwinden der Werke

Ausgehend von diesen Überlegungen zur Aufführungspraxis und zu den Implikationen einer als Partitur notierten Musik, wäre meiner Ansicht nach die Frage nach der Überwindung des traditionellen Werkbegriffes durch Cage neu zu überdenken. Sein Konzept der Unbestimmtheit (indeterminacy) ließ ihn zunächst Kompositionen entwickeln, deren Aufführungen immer auch Realisationen einer Partitur sind. Werke wie Fontana Mix (1958) oder Variations I-IV (1958, 61, 63) können nicht einfach gespielt werden, sondern ihre graphischen Folien-Notationen verlangen stets den Zwischenschritt einer Ausarbeitung (James Pritchett prägte für diese Stücke den Begriff musical tool(15)). Die traditionelle Vorstellung von der Wiedererkennbarkeit eines Werkes ist hier nur in Bezug auf einzelne Realisationen gegeben.

Wenn jedoch, wie in Variations V, der Verweisungszusammenhang von Notation und Notiertem umgekehrt wird, und die Partitur von einer vergangenen Aufführung her erstellt wurde, statt künftige zu implizieren, verschwindet das Werk als akustisch phänomenales Ereignis unhaltbar mit dem Ende seiner Uraufführung. Die Partitur gerät dann zur eigenständigen Kunstform, zu einer Musik, die ihre klangliche Gestalt hinter sich gelassen hat.

Volker Straebel 95

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leicht verändert unter dem Titel "Musikalische Poesie? Zu einigen Problemen der gegewärtigen Cage-Forschung" in: MusikTexte, Zeitschrift für neue Musik, H. 62/63 (Januar 1996), S. 101-103
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) hat ART CD 6125

(2) als Leihmaterial von C. F. Peters New York erhältlich

(3) Dozentenkonzert der 48. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt am 9.4.1994

(4) mündliche Mitteilung von Steve Fisher, C. F. Peters, New York. Zu den Sonatas and Interludes (1946-48) gibt Cage an, daß die genauen Maße der Schrauben und Bolzen nicht in der Präparationstabelle aufgeführt sind, sich aber auf den Tüten verzeichnet finden, die die tatsächlichen Objekte enthalten (Unbetitelter Einführungstext in der Textbeilage zur Schallplatte des 25-Year Retrospective Concert of the Music of John Cage, 1958, als CD 1994 wiederveröffentlicht (Wergo, WER 6247-2), wiederabgedruckt als [Sonatas and Interludes] in: John Cage. An Anthology. Hrsg. v. Richard Kostelanetz, 2. Aufl. New York 1991, S. 74-76).

(5) John Cage: Questions and Answers. Tonbandcassette in Begleitung des Buches John Cage: I-VI, Cambridge, Mass. 1990, Seite A, etwa Minuten 25-30

(6) Die Bestandslisten liegen im John Cage Archive der Musikbibliothek der Northwestern University, Evanston, Illinois vor, während der Verbleib der Instrumente ungewiß ist.

(7) "This composition is written to be performed in a radio studio. The relative dynamics are controlled by an assistant in the control room. The performance may then be broadcast and/or recorded."

(8) Die Partitur schreibt zwei Schallplattenspieler mit stufenlos veränderbarer Geschwindigkeit vor, die für Cage damals nur in dem der Cornish School in Seattle angegliedertem Radiostudio zur Verfügung standen. Vgl. John Cage and Richard Kostelanetz: A Conversation about Radio in Twelve Parts. In: John Cage at Seventy-Five. Hrsg. v. R. Fleming und W. Duckworth [=Bucknell Review, vol. 32, no. 2], Lewisburg 1989, S. 270-302, hier 271

(9) Mittels Herstellerinformationen ist diese Rekonstruktion natürlich durchaus möglich.

(10) vgl. Schallplattenbeilage 25-Year Retrospective Concert of the Music of John Cage, a.a.O: "Imaginary Landscape No. 1. A recording of constant and variable frequency records, cymbal and piano" (meine Hervorhebung). Für den Hinweis danke ich András Wilheim.

(11) For the Birds. John Cage in Conversation with Daniel Charles. Boston und London 1981, S. 170 f.

(12) ibd.

(13) "Performance without score or parts" (Variations V, dritte Bemerkung)

(14) Hier gelte es zum Beispiel den 1966 in der Bundesrepublik Deutschland entstandenen Film Variations V (Produktion: NDR Hamburg, Regie: Arne Arnborn) zu berücksichtigen.

(15) James Pritchett: The Music of John Cage. Cambridge, Mass. 1993, S. 126 ff.