John Cage: Music for Piano (1953-56)

Konzert im Rahmen der MaerzMusik 2002

Als John Cage 1951 erstmals konsequent Zufallsoperationen auf Musik anwandte, tat er dies in der Tradition seriellen Denkens. Das Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra und der Klavier-Zyklus Music of Changes folgen der Kalkulation der verschiedenen Ton-Parameter in Tabellen, aus denen Werte gemäß des chinesischen Münz- oder Schafgaben-Orkals I Ching ausgewählt werden. Diese Erzeugung von Zufallsdaten war ausgesprochen zeitaufwändig. Erst viel später sollte Cage hierfür den Computer einsetzen können.

Während der Arbeit an der ebenfalls aus Tabellen und I Ching-Operationen entwickelten Partitur für das Tonbandstück Williams Mix erhielt Cage 1952 einen Kompositionsauftrag von der Tänzerin Jo Anne Melcher für die kurze Choreographie Paths and Events. Die gebotene Eile ließ Cage von der jüngst entwickelten Kompositionsmethode abweichen: "Ich wollte auch die Möglichkeit haben, sehr rasch Musik zu schreiben. Maler zum Beispiel arbeiten langsam mit Öl und schnell mit Wasserfarben. Während ich also über dieses Problem der Geschwindigkeit des Schreibens nachdachte, betrachtete ich mein Papier und fand mein 'Aquarell': auf einmal sah ich, dass die Musik, alle Musik, bereits da war."(1)

In Music for Piano 1 und den folgenden Stücken des Zyklus nutze Cage die Unreinheiten im Papier, um Frequenz und Einsatzzeitpunkt der Töne festzulegen. Ein Transparent mit Notensystemen diente als Orientierung, um die Vertikale des Papiers in Tonhöhen und die Horizontale in Zeitabstände zu übersetzen. Nur in Music for Piano 1 ist ein Tempo vorgegeben, wobei die sieben Sekunden pro System zugleich die Zeit angeben, die Cage sich einräumte, um möglichst viele Papierunreinheiten in diesem Bereich aufzufinden und als Noten zu markieren. Die Zeit des Komponierens und die des Spielens fallen hier zusammen.

Neben den Nummern 2, 3 und 20 (alle 1953) entstanden bis 1956 fünf Zyklen zu je 16 Stücken (Music for Piano 4-19, 21-36, 37-52, 53-68, 68-84), die von einem oder mehreren Pianisten in Auswahl oder vollständig, mit oder ohne Stille dazwischen, mit oder ohne Überlappungen gespielt werden können. Bis Nr. 20 sind die Einzeltöne wegen des durchgehend gehaltenen Pedals bis zu ihrem Verklingen zu hören - eine Technik, die auch das Klavierwerk des Kollegen und Freundes Morton Feldman in dieser Zeit bestimmt, dem übrigens die Nr. 3 gewidmet ist. Ab Nr. 21 wählt der Interpret die Dauern der Töne selbst, von hier an treten auch Zusatzgeräusche auf, von denen nur festgelegt ist, ob sie außerhalb oder im Innern des Flügels erzeugt werden. Ebenfalls frei sind Tempo und Lautstärken von Nr. 2 an.

Abgesehen von Nr. 1 und 2 entspricht jedes Stück der Music for Piano einer Seite. Cage projiziert hier erstmals konsequent den zweidimensionalen Raum der graphischen Fläche in den akustischen der Musik. Das Trägermaterial des Papiers ist dabei analog zur Stille, die hinter stets vorhandenen Geräuschen und Störungen steht, aber nie rein erfahrbar ist: "Wenn man ein leeres Blatt Papier ansieht [...], kann man das mit der Stille vergleichen. Und durch den kleinsten Punkt oder Fleck, durch die kleinste Unreinheit, den kleinsten Dreck erkennt man, dass es keine Stille gibt."(2) Die Stille existiert nicht als akustisches Phänomen, sondern als Haltung des Hörers, der die Klänge und Geräusche in Bezug auf die Stille hinter ihnen versteht.

Die konzeptionelle Übersetzung von Bild, Notation und Klang sollte Cage bis hin zu seinen Zeichnungen und dem gleichnamigen Kammerwerk Ryoanji (1983) beschäftigen. Das I Ching befragte er in Music for Piano nur noch für Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang keine Analogie bilden: die Anzahl der Töne pro Seite (Dichte), die Tonerzeugung (normaler oder mit der Hand gedämpfter Anschlag, gezupte Saite), die Wahl des Versetzungszeichens; die Wahl zwischen Violin- oder Bass-Schlüssel am Beginn einer jeden Zeile bestimmte ein Münzwurf.

In einem Kommentar zur Music for Piano beschrieb Cage neben der Kompositionsweise auch die Freiheiten, die sich für den oder die Aufführenden ergeben. Ihre Auflistung schließt mit der Frage, was hier eigentlich noch komponiert worden sei. Damit verschiebt Cage den Blick des Komponisten als eines Autors, der mittels Zufallsoperationen eine in Aufführungen reproduzierbare und also wiedererkennbare Partitur erstellt, zu einem Künstler, der eine innerhalb gewisser Grenzen offene Aufführungssituation kreiert. Die Stille, die absichtslose Offenheit dem musikalischen Material gegenüber verwandelt sich in die Stille vor dem Werk. Dessen Interpret wird aus der Perspektive seines Autors zu einem Aspekt des Zufalls.

Volker Straebel 2.02

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leicht verändert im Programmbuch der MaerzMusik 2002
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

  1. John Cage mit Daniel Charles: For the Birds, New Hampshire 1981, 44
  2. ibd.