Trauerrede auf Eberhard Blum

Der Flötist, Sprachperformer und Künstler Eberhard Blum, geboren an 14. Februar 1940 in Stettin, ist am 5. März 2013 in Berlin gestorben. Die folgende Rede wurde auf der Trauerfeier am 5. April 2013 anlässlich der Beisetzung auf dem Friedhof Heerstraße in Berlin gehalten.

"Da ist zu viel da da. – Da ist nicht genug nichts drin."[1] Das war eine der Lieblingsstellen von Eberhard Blum in John Cages 45' für einen Sprecher in der Übersetzung von Ernst Jandl. "'There is too much there there.' – There is not enough of nothing in it."[2] 1990 hat Eberhard Blum den in der Zeit auskomponierten Vortrag in einer Simultanaufführung mit den übrigen Time-Length Pieces für Klavier (Marianne Schröder und Nils Vigeland), Perkussion (Robyn Schulkowsky) und Streicher (Frances-Marie Uitti) in Darmstadt aufgeführt. Es war das Jahr der zweiten Einladung Cages zu den Ferienkursen für Neue Musik nach seinem legendären ersten Auftritt 1958.

Der war noch unbemerkt von Eberhard geblieben, der damals gerade sein Abitur in Stralsund ablegte und sich trotz bestandener Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Rostock erst ein Jahr als Straßenbahnschaffner in der Produktion bewähren sollte. Die Übersiedlung nach West-Berlin gelang 1960; im gleichen Jahr nahm er sein Studium bei Aurèle Nicolet auf. Zwei Jahre später belegte er auf dessen Empfehlung bei den Darmstädter Ferienkursen einen Workshop bei Severino Gazzelloni.

Dort lernte er Werke von Luciano Berio, Pierre Boulez und Luigi Nono kennen. Die serielle Musik stand im Zenit und Eberhard Blum beschäftigte sich mit der von ihr geforderten dynamischen und rhythmischen Differenzierung seines Spiels. In West-Berlin gehörte er bald zum Kern der Gruppe Neue Musik um Erhard Grosskopf, Gerald Hummel und Wilhelm Dieter Siebert. Hummel hatte bereits 1960 sein Praeludium und Scherzo Eberhard gewidmet – es sollte am Anfang einer langen, kaum übersehbaren Reihe von Werken stehen, die Eberhard Blum angeregt und in intensiver Zusammenarbeit mit dem Komponisten zur Uraufführung gebracht hat.[3]

In einer Künstlerbiographie, die mir Eberhard Ende der 1990er Jahre, als wir uns kennenlernten, zukommen ließ – handschriftlich, per Fax; denn Computer und Email sollten nie seine Sache werden – heißt es lapidar: "Seit den sechziger Jahren Konzerte mit neuer und experimenteller Musik. Seit 1973 regelmäßige Arbeit mit Morton Feldman. Aufführungen von Sprechstücken von Kurt Schwitters, John Cage und Emmet Williams."[4]

Tatsächlich aber scheint Eberhard seit 1962 überall gewesen zu sein, wo es in der konservativen Bundesrepublik Neues im Bereich der Musik zu entdecken gab. 1968 beteiligte er sich an Karlheinz Stockhausens Kollektiv-Komposition Musik für ein Haus in Darmstadt, und dies wurde ihm 1972 zur Anregung für ein zehntägiges Programm von Aufführungen und Lesungen in der Berliner Galerie Kleber – ausgerechnet anlässlich des 60. Geburtstages des von Stockhausen wenig geschätzten John Cage.[5] 1971 "entdeckte" ihn Morton Feldman, der als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Berlin lebte, und holte Eberhard für 1973-1976 und 1978/79 an das Center for the Creative and Performing Arts an der State University of New York at Buffalo.

Der Rest ist Geschichte. Das Ensemble Morton Feldman and Soloists, gebildet von Feldman, Blum, dem Komponisten und Pianisten Nils Vigeland und dem Perkussionisten Jan Williams, bildete den Fokus für Feldmans Spätwerk und konzertierte weltweit, auch nach dem Tod des Komponisten 1987. Zu Feldmans Werken, die mit Eberhard als Uraufführungsinstrumentalisten entstanden, gehören: Instruments III (1977, uraufgeführt in der in der Whitechapel Art Gallery, London); Why Patterns (1978, uraufgeführt beim Meta-Musik Festival in Berlin); Crippled Symmetry (1983, uraufgeführt in der Akademie der Künste, Berlin); For Philip Guston (1984, uraufgeführt in Buffalo, NY); For Christian Wolff (1986, uraufgeführt bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt).

Seit 1975 brachte Eberhard Kurt Schwitters Ursonate über einhundertmal zur Aufführung, wenn auch nicht zur Uraufführung, wie in einem Nachruf einer Berliner Lokalzeitung fälschlich zu lesen war.[6] Über seine Tätigkeit als Musiker und Stimm-Performer hinaus war Eberhard ein Meister in der Konzeption klug durchdachter Konzertprogramme – Positionen der Moderne (1988), Stationen der musikalischen Moderne (1989), Stefan Wolpe und die musikalische Avantgarde (1990), Mit anderen Ohren (1991), Die Kunst der Serie (1993),[7] zuletzt 2012 zusammen mit Erhard Grosskopf die Reihe Von der Disziplin der Anarchie in der Akademie der Künste, die endlich den lang gehegten Plan, John Cage als Komponisten traditionell notierter Musik zu präsentieren, einlöste.

Zu seiner Arbeit als Musiker sagte Eberhard einmal: "Ich versuche immer […], mich nicht als Interpret zu sehen. Ich verstehe mich als Ausführenden. Das betrifft alle Partituren, von ganz herkömmlich notierten bis zu konzeptionellen Stücken […]. Ich versuche nur, die Idee des Komponisten in die Tat umzusetzen." Und auf meinen Einwand, ob es nicht eine von den Fallstricken der Hermeneutik verwehrte Illusion sei, die Komponistenintention rekonstruieren zu können, erwiderte Eberhard mit der ihm eigenen Mischung aus Bestimmtheit und triumphalen Trotz: "Das ist Illusion, und dieser Utopie, Kompositionen nahe zu kommen, widme ich mein ganzes Leben." [8]

Das hat er getan. Eberhard Blum wurde zur künstlerischen Instanz in Sachen Cage, Feldman, Brown und Wolff, Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann, Haubenstock-Ramati, Takemitsu, Hosokawa, Grosskopf und Fritsch. Die zahlreichen Einspielungen sind Referenzaufnahmen seines Repertoires.[9] Als neulich auf einer Konferenz in Boston eine Flötistin, die zur Offenen Form referierte, auf eine Frage zu Haubenstock-Ramati keine Antwort wusste, sagte sie mit größter Selbstverständlichkeit: "I don't know. Eberhard Blum would know."

Er hätte es gewusst. Hätte er es nicht gewusst, Eberhard hätte das fragliche Werk nicht zur Aufführung gebracht. Er hat immer die Redlichkeit des ausführenden Künstlers über den Effekt des performativen Musikers gestellt. "Whenever people do their worst thing, they connect it with my name." – Die resignative Äußerung Cages führte Eberhard gern an, wenn er sich für die präzis einstudierte und in ihrer Darbietung detailliert geplante Aufführung einsetzte. Programmgestaltung, Bühnenaufbau, Licht, Drucksachen (oft in der kongenialen Gestaltung seiner Partnerin Ann Holyoke Lehmann) – Eberhard verstand das Konzert als ästhetisches Ereignis, ohne die Inszenierung Selbstzweck werden zu lassen. Als Veranstalter war es ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, obwohl seine hohen Ansprüche nicht immer leicht zu befriedigen waren. Mir erschien Eberhard so mitunter als das Gewissen der Neuen Musik. Diese Rolle hat ihm nicht nur Freunde gemacht. Das aber war es wert. Es sind mit Sicherheit viele unter uns, die auf vielen Ebenen von ihm gelernt haben, und die ihm unvergessliche Konzerterlebnisse verdanken.

Mit der gleichen Intensität und Konsequenz, mit der Eberhard Blum sich der Musik widmete, betrieb er seit den 1980er Jahren seine bildnerische Arbeit.[10] Ausgehend von Morton Feldmans Begriff der abstract experience bewegte sich Eberhard im Spannungsfeld von intellektueller Konzeption und manueller Realisation. Und Eberhard erzählte gern, wie Feldman in seinem Atelier lange vor den großformatigen Zeichnungen gestanden habe und schließlich nur einen Satz sagte: "Eberhard, you found something." Wie wir in komponierter Musik geneigt sind, einen ästhetischen Gegenstand jenseits der individuellen Aufführung anzunehmen, so scheinen Eberhards Zeichnungen trotz ihrer abstrakten – oder wenn man will: konkreten – Form auf eine ästhetische Wirklichkeit jenseits ihrer materialen Gegenwart zu zielen. Besonders deutlich wird das in den konzeptionellen Arbeiten wie den 59 Wandlungen (2003), bei denen nach seriellen Prinzipien die Farbauswahl vertikaler Linien bestimmt wird.[11] Hier lernt Konzeptkunst vom Denken der Neuen Musik. Für Eberhard gab es keine Kunst ohne Musik.

Andererseits war für Eberhard die Musik nicht an die Kategorie der fortschreitenden und zählbaren Zeit gebunden. Den überzeitlichen musikalischen Werkbegriff, der den musikalischen Text und damit auch die musikalische Graphik nobilitiert, verfocht Eberhard mit großer Entschiedenheit. Wo andere Vertreter der Avantgarde von "Stücken", "Arbeiten" oder "Kompositionen" reden, sprach Eberhard stets von Werken.

Es will mir in diesem Moment trostreich erscheinen, dass Eberhard, wie Feldman es in seinem Schlüsseltext Between Categories gefordert hatte,[12] den Zeitkern der Musik nicht auf ihren Vollzug reduzierte. In einer Fantasie-Notation eines Albumblatts hat Eberhard bei der Taktbezeichnung Nenner und Zähler vertausch und eine Achtelnote über ein Unendlich-Zeichen gesetzt.[13] Wie verläuft hier die Zeit? Die raschen, flötenhaften Sprünge und die Sprachklänge bleiben stumm und sind dennoch präsent.

Im Vorwort zu Silence antwortet John Cage auf die Frage, warum er keine konventionellen Vorträge hielte, sondern zeitlich und/oder strukturell komponierte Texte vortrage: "Ich halte diese Vorträge nicht, um die Leute zu überraschen, sondern aus poetischer Notwendigkeit." – "[O]ut of a need for poetry."[14] Vielleicht ist es diese Haltung, die Eberhard mit Cage teilte, die mich, seit ich ihn mit Anfang Zwanzig zum ersten Mal auf der Bühne sah, stark beeindruckt hat: der Glaube an die poetische Notwendigkeit, die im abstrakten Material liegt, nicht in einer Bedeutung oder Wirkung. Das Material entdeckt uns seine Qualität, der wir uns existentiell aussetzen. So ist es kein Zufall, dass Cage im Vortrag über Nichts nicht nur über Struktur, Zeit und Stille, sondern auch über Tod und Leben spricht, von denen es kein Entkommen gibt, eben so wenig wie vor dem Zanken der Nachbarn und dem Quietschen der Pedale des Klaviers:

"… So daß | man beim Anhören dieser | Musik … als | Sprungbrett … den | ersten Klang nimmt … | der vorkommt … | ; … das erste | Etwas schnellt uns … | ins Nichts und … | aus diesem Nichts … | steigt … das | nächste Etwas … | usw. … | Kein einziger Klang … | fürchtet die Stille[,] … | die ihn auslöscht. … Und | es gibt keine Stille … | die nicht mit Klang … | … ge | laden ist. … |"[15]

 

Volker Straebel

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Anmerkungen

[1] John Cage: "45' für einen Sprecher" [45' for a speaker, 1954], übers. v. Ernst Jandl, in: Silence. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 63-157, hier: 5'40".

[2] John Cage: "45' for a speaker" [1954], in: Cage, Silence. Lectures and Writings. Hanover, New Hampshire: Wesleyan University Press 1961, S. 146-192, hier: 5'40".

[3] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance. Bilder und Berichte aus meinem Leben als Musiker. Berlin: Berlinische Galerie 2008.

[4] Eberhard Blum, 12.02.1998.

[5] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 54-58.

[6] Vgl. Jens Hinrichsen: "Streiter für das Unerhörte. Flötist und Künstler: Eberhard Blum ist tot", in: Der Tagesspiegel, 10.03.2013.

[7] Vgl. Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 196-219.

[8] Eberhard Blum und Volker Straebel: "Zur Interpretation Neuer Musik. Zwei Gespräche über ausgewählte Werke (I)", in: Positionen, Nr. 31 (Mai 1997), S. 40-45, hier S. 40.

[9] Vgl. die kommentierte Auswahldiskographie Eberhard Blum: Recordings on CD, 1990-1997. Berlin: Selbstverlag 1997. Eine Auswahl der für Eberhard Blum komponierten Solo-Werke liegt vor in Eberhard Blum: Anthology 1968-1998. Berlin: Selbstverlag 2000, 2 CDs.

[10] Vgl. Eberhard Blum: Visual Work, 1980-98. Berlin: Selbstverlag 1998 und Eberhard Blum: Visual Work, 1992-2005, hrsg. v. Günter Braun und Waldtraut Braun. Berlin: Selbstverlag 2006.

[11] Die Partitur für diese Serie ist reproduziert in Eberhard Blum: Choice & Chance, a.a.O., S. 190.

[12] Vgl. Morton Feldman: "Between Categories" [1969], in: Give my Regards to Eighth Street. Collected Writings, hrsg. v. B. H. Friedman. Cambridge: Exact Change 2000, S. 83-89, deutsch auch in Morton Feldman: Essays, hrsg. v. Walter Zimmermann. Köln: Beginner Press 1985.

[13] Eberhard Blum: Fragment für V.S., Manuskript, datiert 4.1.2010.

[14] John Cage: Silence. Lectures and Writings. Hanover, New Hampshire: Wesleyan University Press 1961, S. X; John Cage: Silence, übers. v. Ernst Jandl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 159.

[15] John Cage: "Vortrag über Nichts" [Lecture on nothing, 1949], übers. v. Ernst Jandl, in: Silence. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 6-62, hier S. 48. Vorgetragen mit 5" von | zu |. Beim letzten | habe ich deutlich hörbar die mechanische Stoppuhr angehalten.

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