Zur Interpretation Neuer Musik

Zwei Gespräche über ausgewählte Werke zwischen Eberhard Blum und Volker Straebel

Die Werke:

Luciano Berio Sequenza I per Flauto solo von 1958 (Edizioni Suvini Zerboni, Mailand 1958, S.5531Z. und Universal Edition, Mailand 1992, UE 19957)

John Cage Ryoanji von 1983-84, fünf Stimmen, die vom Solo bis zur beliebigen Besetzung kombiniert werden können: Flöte, Oboe, Stimme und Posaune - jeweils mit Tonband ad. lib. -, Kontrabaß mit Stimme ad. lib. und Tonband, dazu obligates Schlagzeug oder Instrumentalensemble mit 20 beliebigen Instrumenten (C. F. Peters New York).

Morton Feldman Why Patterns? für Flöte (auch Altflöte und Baßflöte), Glockenspiel und Klavier, von 1978 (Universal Edition, London, 1978, UE 16263L)

Roman Haubenstock-Ramati Interpolation, Mobile pour Flûte (1, 2 et 3) von 1958 (Universal Edition, London 1959, UE 13078)

Bernd Alois Zimmermann Tempus loquendi, Pezzi ellittici per Flauto Grande, Flauto in Sol e Flauto Basso solo von 1963 (Schott, Mainz 1964, ED 5395)

Erstes Gespräch

Straebel: Daß wir unsere Gespräche der Interpretation und nicht dem Vortrag Neuer Musik gewidmet haben, ist nicht Unbescheidenheit, sondern Programm. Schließlich wollen wir uns mit solchen Werken der vergangenen vierzig Jahre beschäftigen, deren performative Interpretation von ihrer hermeneutischen nicht mehr zu trennen ist. Seien es freie Notationen, ungenaue oder fehlende Spielanweisungen, offene Formen oder unspielbare Passagen - stets überschreitet der Musiker notwendig das Gebiet bloßer akustischer Vergegenwärtigung eines fixierten Textes. Dem Hörer, der nicht mit den besonderen Implikationen der jeweiligen Partitur vertraut ist, bietet er nicht nur eine subjektive Darstellung, sondern eine teilweise sehr weit gehende Deutung des musikalischen Werkes. Oder sollte der Musiker sich nicht besser zurückziehen und es mit Roman Haubenstock-Ramati halten: "Aufführen? Realisieren? Im Zweifel, nie!"(1)

Blum: Ich versuche immer wieder, mich nicht als Interpret zu sehen. Ich verstehe mich als Ausführenden. Das betrifft alle Partituren, von ganz herkömmlich notierten bis zu konzeptionellen Stücken wie Variations I von John Cage. Ich versuche nur, die Idee des Komponisten in die Tat umzusetzen.

Straebel: Ist das nicht aber Illusion?

Blum: Das ist Illusion, und dieser Utopie, Kompositionen nahe zu kommen, widme ich mein ganzes Leben.

Straebel: Sie gehen also davon aus, daß es eine Intention des Komponisten gibt, die in der Partitur chiffriert ist. Und indem sie die musikalischen Spielanweisungen dechiffrieren, bringen sie nicht nur das, was dort steht zum Klingen, sondern bilden auch diese ursprüngliche, auktoriale Intention ab.

Blum: Das ist meine Absicht. Es gelingt natürlich nicht immer, weil mir unüberwindliche Hindernisse im Wege stehen - seien sie physischer, spieltechnischer oder geistiger Art. Hilfreich auf dem Wege dahin ist, alle verfügbaren Informationen zu der speziellen Partitur, ihrem Umfeld und dem Komponisten zusammenzutragen, um sie in die Aufführung einfließen zu lassen. Man kann sich nicht nur auf eine Partitur berufen und sagen: "Hier sind die Noten. Was da nicht steht, hat mich nicht zu interessieren."

Straebel: Sie betonen bei diesem hermeneutische Prinzip der verstehenden Annäherung den Versuch, den Horizont des Autors zu teilen. Dabei können sie doch aber nicht ihren eigenen Horizont leugnen, der auch in die Interpretation einfließen muß.

Blum: Nein, natürlich bin ich geprägt von meiner Zeit, und natürlich gibt es auch ein subjektives Moment in der Auslegung von Details. Das versuche ich auch nicht zu verhindern. Die perfekte Rekreation eines Werkes aus dem Geist seiner Zeit gibt es nicht.

Straebel: Ich halte es dennoch für illusionär, an der Möglichkeit der Rekonstruktion der auktorialen Intention festzuhalten. Es ist umgekehrt gerade die Aufgabe des Interpreten, die Balance zu wahren zwischen der Intention des Komponisten und seiner eigenen gegenwärtigen Situation.

Blum: Aber das ist - zumindest in meinem Fall - kein intellektueller Vorgang. Dies vollzieht sich selbstverständlich bei der Arbeit am Stück.

Straebel: Es bleibt ihnen auch nichts Anderes übrig, schließlich können Sie sich als Interpretenpersönlichkeit nicht einfach ausradieren.

Blum: Nein, denn wie sagt Cage: "Ein bißchen Entscheidung meinerseits kommt immer dazu." Doch es besteht die Gefahr, daß Interpreten gezielt Werke auslegen, um irgend etwas zu erreichen. Und das ist ein gewaltiger Fehler.

Straebel: Die ersten beiden Stücke, über die wir sprechen wollen, sind offene Formen, bei denen die Abfolge der einzelnen Töne unterschiedlich sein können. Roman Haubenstock-Ramati hat für sein Modell den Begriff des Mobiles geprägt. In einem seiner Texte stellt er in Frage, ob man seine Stücke überhaupt aufführen oder realisieren soll. Zielt dies nicht dahin, daß man solche Werke gar nicht aufführen kann, daß das Werk jeweils viel mehr ist, als in einem Konzert zur Aufführung kommt?

Blum: Ja, das meinte ich vorhin mit der Annäherung an eine Utopie. Ich glaube Heinz-Klaus Metzger hat einmal gesagt, daß die beste Aufführung eines Werkes das Lesen seiner Partitur ist - da gibt es keine Fehler. Nur, das Entscheidende fehlt: der Klang.

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Straebel: Bei Haubenstock-Ramati ist die Sache jedoch komplizierter. Wenn ich das Stück Interpolation, Mobile für 1, 2 oder 3 Flöten (1958) lese, gehe ich einen von vielen möglichen Wegen durch die Partitur, und wenn ich das Stück wiederlese, nehme ich wahrscheinlich einen anderen Weg. Auch werde ich im wiederholten Lesen erst nach und nach einen tieferen Begriff von dem Werk erhalten; meine Erfahrungen sedimentieren zu einer Gesamtheit, die letztlich das Stück ist. Diese ist aber eben nicht klanglich erfahrbar.

Blum: Werden wir einmal praktisch. Wir haben es mit einer Anzahl von Abschnitten zu tun, die über ein Blatt verteilt sind. Es gibt verschiedene Wege durch das Gitter hindurch, wobei unterschiedliche Anfänge und Enden möglich sind. Diese ergeben eine Flötenstimme. Ich erhalte meine Stimme wohlgemerkt nicht während der Aufführung, sondern schreibe sie mir vorher heraus.

Straebel: Sie entwickeln also eine Realisation, die sie traditionell aufführen, obwohl sich der Komponist eigentlich dagegen wehrt: "Wird man eine Version des Mobile ausschreiben, so ist das eben die Version, die nie stattfinden könnte: die fixierte Version ist nämlich ein vollkommen anderes Werk. Wie gut, daß diese Werke - auf wenn aufgeführt - noch immer auf ihre 'Uraufführung' warten dürfen."(2)

Blum: Ja, aber schon beim Einstudieren geht der Ärger los, weil sich immer noch viele Fragen stellen, die in der Partitur nicht oder nur teilweise beantwortet werden. Zum Beispiel sind in einzelnen Abschnitten die Noten mit zwei verschiedenen Balken verbunden, die die Ziffern 1 und 2 tragen und für unterschiedliche Tempi stehen. Außerdem gibt es Strichnoten, die zwischengeschoben werden. Wenn man nun 1 spielt, läßt man dann 2 aus? Was wird aus den Vorschlägen? Oder spiele ich nur die, die vor Tönen von 1 stehen? Wenn ich diese Töne weglasse, ändert sich auch die Artikulation der gespielten, weil diese teilweise gebunden sind. So häufen sich die Probleme. Aber so wird es auch gerade interessant, weil wir uns wieder in Richtung Utopie bewegen. Ich weiß, daß Haubenstock-Ramati diese Dinge mit Absicht eingebaut hat, damit der mobile Charakter wirklich entsteht, und zwar nicht nur in dem, was klingt, sondern schon auf dem Wege dorthin.

Straebel: Wie entscheiden sie sich nun aber?

Blum: Ich entscheide nach meinen subjektiven spieltechnischen Möglichkeiten und nach meinem Geschmack, der hier durch das Stdium dieses und anderer Werke von Haubenstock-Ramati geprägt ist.

Straebel: Die Partitur sieht vor, daß nacheinander drei Wege durch den Notentext einander überlagert werden, also erst ein Flötist spielt, dann ein Duo, schließlich ein Trio. Sie haben sich für die ausdrücklich erwähnte Möglichkeit der Wiederholung ihres eigenen Spiels auf Tonband entschieden.

Blum: Genau, aber ich habe das Band mit den Wiederholungen vorproduziert.

Straebel: Sie spielen also den zweiten Weg nicht mehr als Solo.

Blum: Nein, als Duo.

Straebel: Könnten sie demnach eine Partitur schreiben, in der die drei Stimmen in ihrer zeitlichen Koordination genau fixiert sind? Das widerspräche dann allerdings dem flexiblen Charakter des Stückes.

Blum: Eine Partitur der drei Stimmen herzustellen ist unmöglich, da jede Stimme für sich flexibel ist durch Fermaten, accelerandi und ritardandi. Ich empfinde das Stück wie ein Mobile von Calder. Man steht still davor und sieht das Mobile sich bewegen. Nun kann man sich aber auch noch selbst bewegen und der Blick verschiebt sich. Das ist gewissermaßen die Fassung, die ich mache, eine winzige Neigung des Kopfes. Außerdem ist es eine Frage der Klangqualität.

Straebel: Nun, das Stück stammt von 1958, da gab es ja auch keine perfekte Aufnahmetechnik.

Blum: Nein, man denke außerdem an das Zurückspulen des Tonbandes, das dann Löcher im Stück ergäbe.

Straebel: Man hätte dann eben drei Sätze. Schließlich sollte man die technischen Bedingungen der Entstehungszeit berücksichtigen.

Blum: Soll ich etwa die alten Magnetophone benutzen?

Straebel: Das wäre dann die Frage nach den Grenzen historischer Aufführungspraxis elektronischer Musik.

Blum: Na ja gut, meine Flöte ist erst 1985 gebaut - das ist ein schwieriges Problem, auf das auch ich keine Antwort habe.

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Straebel: Bei Bernd Aolis Zimmermanns Tempus loquendi gibt es ebenfalls einzelne Passagen, die in ihrer Reihenfolge frei sind, die sie aber vor der Aufführung festlegen. Der Komponist wünschte, vor allem in der Kadenz rappresentazione (Nr. 13), daß die Auswahl "womöglich jeweils spontan erfolgt"(3) - das tun sie nicht.

Blum: Ich mache zwei Arten von Aufführungen. Jahrelang habe ich spontan beim Spielen ausgewählt. Vor etwa zwei Jahren bin ich jedoch dazu übergegangen, zwei verschiedene, ausgearbeitete Fassungen zu spielen. So fühle ich mich in diesem technisch extrem komplizierten Werk sicherer. Ich kann mich nun handwerklich besser auf die jeweils folgende Stelle vorbereiten.

Straebel: Wie würden sie den Unterschied des Höreindrucks beschreiben?

Blum: Ich glaube nicht, daß der Hörer überhaupt einen Unterschied merkt. Er könnte höchstens den Eindruck der Unsicherheit haben, wüßte aber nicht, wo diese herrührt. Ich könnte schließlich auch schlecht vorbereitet sein.

Straebel: Der Hörer sollte doch wissen, daß es sich um ein teilweise aleatorisches Stück handelt.

Blum: Das müßte man ihm im Programmheft mitteilen. Im Konzert spiele ich immer eine festgelegte Fassung, und auf der CD(4) sind zwei Versionen, von denen eine nicht festgelegt ist.

Straebel: Die zweite gefällt mir besser.

Blum: Interessant, die ist nicht festgelegt. In der ersten Version hingegen habe ich für die Kadenz weitestgehend die Ausarbeitung des Komponisten verwendet.(5) In der Originalpartitur gibt er hingegen die Anweisung "der Spieler trachte danach, möglichst improvisatorisch (...) und möglichst 'gleichzeitig' die 3 Schichten der rappresentazione auszuführen, so weit es geht"(6). Der Ausdruck "Improvisation" stört mich ein wenig, ich improvisiere nicht, ich versuche einen Notentext so genau wie möglich auszuführen.

Straebel: Aber sie können das ja gar nicht ausführen. Sie sind hier mit einer Passage konfrontiert, die offensichtlich unausführbar ist.

Blum: Ich springe also ständig hin und her, um diese drei Schichten anzudeuten. Das ist ja auch die Intention des Komponisten, die zu einem höchst virtuosen Etwas führt.

Straebel: Er sagt ja auch ausdrücklich: "Gleichzeitigkeit ist selbstverständlich effektiv nicht möglich, jedoch virtuell"(7). Diese wird meines Erachtens in der Aufnahme, die der Originalfassung folgt, deutlicher spürbar als in der anderen, ausnotierten.

Blum: Und ich finde ganz persönlich die Ausarbeitung des Komponisten auch nicht immer berauschend. Dafür sind in der "freien" Aufnahme einige falsche Töne drin, die aber die eigentliche Sache nicht zerstören. Da ist auch nichts geschnitten. Eigentlich finde ich es schade, daß es die von Zimmermann ausgearbeitete Fassung überhaupt gibt.

Straebel: Dafür ist sie aber ein Schlüssel für manche Notationsprobleme der Originalfassung.

Blum: Das ist richtig. Wenn mir zum Beispiel die Möglichkeit gegeben wird, bstimmte Abschnitte aleatorischer Teile rückwärts zu spielen, muß ich de dynamischen Zeichen immer an den Beginn einer Phrase bzw. Notengruppe rücken. Eindeutig ist dies nur der Ausarbeitung des Komponisten zu entnehmen.

Straebel: Ein großes aufführungspraktisches Problem in diesem Stück stellen die Tempoangaben dar.

Blum: Zum einen sind die Metronomangaben bis auf ein Zehntel genau vorgeschrieben, so daß sie, wie der Komponist in der Partitur selbst angibt, "das ideale Ziel einer zwangsläufig approximativen Ausführung sind"(8). (Das gefällt mir übrigens sehr gut: es sagt "Ausführung"). Zum anderen ist das gewünschte Tempo zum Teil rasend schnell. Nehmen wir zum Beispiel die Nr. 7, ein Stück für Alt-Flöte. Versuchen Sie sich das einmal im richtigen Tempo vorzustellen, sagen wir Halbe 60 statt 61,7. Es gibt 7 dynamische Stufen, die zum Teil innerhalb eines Vorschlags wechseln. Hinzu kommen die gewaltigen Sprünge, das alles in einem rasenden Tempo. In der tiefen Lage ist manchmal der Einschwingvorgang der Flöte länger als der Ton überhaupt dauern soll. - Nun gut, wir spielen das Stück nicht, der Komponist ist schlecht, wir spielen lieber andere Musik, wo der Komponist sein Handwerk gelernt hat. Ich behaupte, daß der Komponist sein Handwerk wohl beherrscht, und zwar besser als mancher andere. Diese Sachen geben dem Werk nämlich eine ganz bestimmte Atmosphäre, oder wie Feldman immer sagte: einen Ort.

Straebel: Meinen sie mit Atmosphäre die Situation, daß der Interpret notwendig überfordert ist, oder eine bestimmte Faktur des Werkes, die im Notenbild fixiert ist, und die letztlich nur als Augenmusik dem Leser zugänglich ist?

Blum: Es ist von beidem etwas. Die permanente Überforderung erzeugt eine ungeheure Intensität. Zum anderen: Ich versuche ja gar nicht, in diesem Tempo zu spielen, ich spiele nur so schnell, wie ich das Stück wirklich sicher aufführen kann.

Straebel: Richten sie sich dabei nach der "schwierigsten" Stelle im ganzen Stück, und berechnen von dort ausgehend alle anderen Tempi, wie es Stockhausen in seinen Klavierstücken I-IV verlangt, oder behandeln sie jede der 13 Nummern gesondert?

Blum: Ich betrachte jede Nummer als in sich abgeschlossene Einheit, aber natürlich stehen die Nummern auch in einem Verhältnis zueinander, das es zu berücksichtigen gilt. Das ist ein ungeheuer komplizierter Vorgang. Ich übe an diesem Stück ja nun schon seit Jahren - besonders nach Konzerten -, um diesem Gebilde näher zu kommen.

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Straebel: Bei Luciano Berios Sequenza I gibt es insofern eine Parallele zu Zimmermann, als daß ebenfalls zwei Druckfassungen des Stückes vorliegen. Die Erstauflage von 1958 verwendet space notation, während Berios eigene Überarbeitung von 1992 in herkömmlicher metrischer Notation, wenn auch ohne Taktstriche, fixiert ist.(8) Außerdem wurden in der Neufassung die Fermaten mit Dauernangaben versehen. An einigen Stellen der Erstausgabe fehlen die das Metrum angebenden senkrechten Striche.

Blum: Dort bleibt die Musik stehen.

Straebel: Wie spielen sie solche Stellen, wie etwa Seite 3, 7. System (Flatterzunge a1, Abb. 4a)?

Blum: Ich denke mir eine Fermate darauf.

Straebel: Sie zählen also nicht in Analogie zu der darüber stehenden Zeile bis vier?

Blum: Nein, weil die Striche fehlen, gibt es hier überhaupt keine Zeit.

Straebel: In der Neuausgabe sind aber genau 5 Sekunden als Dauer vorgesehen (Abb. 4b).

Blum: Das ist das grundsätzliche Problem. Die Notationsform der Urfassung ist für mich eine in genialer Weise praktische Erfindung gewesen, da sie den ausführenden Musiker von dem Dickicht der herkömmlichen rhythmischen Notation befreit. Die war ja dem, was da abgebildet werden sollte, gar nicht gewachsen. Denken sie nur an die ganzen 13 gegen 11 Verhältnisse mit eingeschachtelten Triolen. Nun entstand jedoch eine kontrollierte Freiheit der Notation, die der Lesegeschwindigkeit des Auges folgt, und das Notenbild vereinfacht.

Straebel: Diese komplizierten rhythmischen Verhältnisse entstanden doch aber aus seriellen Prinzipien heraus und stehen damit wieder für eine Bedeutung jenseits des akustisch Erfahrbaren. Die Notation ist dann nicht nur Aufführungsvorschrift.

Blum: Zweifellos. Ich will das Werk aber aufführen und nicht nur lesen.

Straebel: So verändert sich bei der Umschrift von space notation in metrische Notation der Begriff der Tondauer. Einmal denken sie in Zeitabschnitten, und einmal denken sie in Schlägen. Ist es damit nicht ein anderes Stück geworden?

Blum: Ja, absolut. Und ich bedaure sehr, daß Berio seine musikalische wie kompositionstechnischen Erfindungen der Urfassung wieder zurücknimmt. Das ist schlicht unverständlich, zumal ich keinen Flötisten kenne, der dieses Stück gespielt hat und sich über die Notation beschwert hätte. Auch ist es für mich fast unmöglich die neue Fassung zu spielen, weil ich ja die alte im Ohr habe.

Straebel: Dabei ist doch die neue Fassung nur ein Versuch, die alte konventionell zu notieren, wie bei Zimmermann.

Blum: Nein, Berio geht ja rückwärts, Zimmermann hat nie eine andere Notation gehabt.

Straebel: Aber Zimmermann hat doch auch zwei Jahre nach der Erstfassung eigene Ausarbeitungen veröffentlicht.

Blum: Das geschah wahrscheinlich auf Drängen des Verlages, weil niemand das Stück spielen wollte oder konnte. Bei Berio liegen über dreißig Jahre zwischen den Fassungen, als wollte er vergessen, was diese Zeit musikgeschichtlich hervorgebracht hat. Es ist mir unverständlich, was in dem Komponisten vorgeht. Denn inzwischen ist es ja längst ein Standardwerk geworden, das Studenten bei der Aufnahmeprüfung spielen. In frühen Aufführungskritiken wurde das Werk hingegen mit der Klangwelt elektronischer Musik verglichen. Dieser Eindruck hat sich offensichtlich gewandelt.

Straebel: Schließlich hat Berio immer für sich in Anspruch genommen, instrumentengerecht zu schreiben.(9)

Blum: Das hat er auch getan. Nur war das damals noch nicht so klar. Im Vergleich zu Zimmermann etwa ist die Dynamikbehandlung viel organischer. Zimmermann wiederum nutzt Geräusche auf brilliante Weise.

Straebel: Versuchen wir ein Fazit unseres ersten Gespräches zu geben. Zu Beginn haben sie sich gegen die Bezeichnung Interpret verwehrt und sich einen Ausführenden genannt. Nun fordern aber alle drei besprochenen Stücke aufgrund ihrer formalen Anlage zwingend eine Interpretation, sobald sie aufgeführt werden. Sie, der Flötist, präsentieren in jedem Konzert nur einen von vielen möglichen Blicken auf das Werk, und es ist ihre Interpretationsleistung, die diesen Blick bestimmt.

Blum: Trotzdem möchte ich meine Rolle so beschreiben: Was ich betreibe, ist die physische Hervorbringung von Klang - nach bestimmten Vorschriften, die vom Komponisten gegeben sind. Wenn diese Vorschriften mich zwingen, zusätzlich eigene Entscheidungen zu treffen, so gehört dies zu meiner Tätigkeit, "graphische Gebilde" in "akustische Gebilde" zu übersetzen. Dies wird noch komplizierter, wenn wir in unserem zweiten Gespräch über Werke von Cage und Feldman und deren Aufführung sprechen werden.

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2. Gespräch

"Why Patterns? ist eine Komposition für Flöte, Glockenspiel und Klavier, die eine große Vielfalt von Mustern beinhaltet. In dem Stück ist jedes Instrument für sich notiert, und eine Koordination findet erst in den letzten Minuten der Komposition statt. Diese sehr enge, aber nie ganz genau synchronisierte Notation gestattet ein flexibleres Voranschreiten dreier sehr unterschiedlicher Farben." (10) (Morton Feldman)

Straebel: Betrachtet man die erste Akkolade von Morton Feldmans Why Patterns?, so findet man ein gemeinsames Tempo für alle drei Stimmen vorgeschrieben, die Stimmen schreiten jedoch in unterschiedlichen Taktarten - vertikal nicht koordiniert - voran. Alt-Flöte und Glockenspiel haben hier jeweils zwölf Takte, das Klavier 17. Die Alt-Flöte spielt in diesen 61 1/2 Achtel, das Klavier 51 und das Glockenspiel 82 Achtel.

Blum (lacht): Danke, ich habe sehr viel gelernt eben.

Straebel: Schon in der ersten Zeile sind die Einzelstimmen bis zu 31 Schläge auseinander. Was bedeutet dies für die Aufführung?

Blum: Wir müssen einen Schritt zurückgehen. Der Begriff Partitur ist für dieses Werk irreführend. Es sind drei Stimmen, die vertikal nicht koordiniert sind. Was heißt das? Wir fangen gemeinsam an zu spielen, und jeder der drei Musiker spielt so genau wie möglich seine Stimme mit MM: 63. Da es sich in der Regel um sehr abstrakte und rhythmisch komplexe Gebilde handelt, ist man trotz genauen Zählens schon nach kurzer Zeit nicht mehr exakt im Metrum. So ergeben sich Ungenauigkeiten, und genau das ist es, was Feldman interessiert hat. Er wollte, daß drei Stimmen gleichzeitig spielen mit größter Präzision im herkömmlichen Sinne, daß aber, was vertikal sich abspielt, bei jeder Aufführung etwas anders wird.

Straebel: Deshalb wurde Why Patterns? im Konzert der Uraufführung beim Metamusik-Festival am 21. Oktober 1978 in Berlin auch zweimal gespielt.

Blum: Genau. Der Versuch, so genau wie möglich zu spielen, erzeugt für mich als Spieler eine gewisse Freiheit. Ich bin so viel entspannter, weil ich mich nicht mit den anderen Musikern koordinieren muß. Nur ganz am Ende des Stückes folgt eine herkömmlich notierte Coda. Auf Seite 13 wartet man aufeinander und spielt dann die letzten zwei Seiten ganz herkömmlich.

Straebel: Im ersten, etwa halbstündigen Teil des Stückes wäre also eine angemessene Hörhaltung, weniger auf die Vertikale zu achten, sondern einer extremen dreistimmigen Polyphonie zu folgen. Dies ist eigentlich kaum zu leisten.

Blum: Nun, Feldman hat sicherlich keine Unterhaltungsmusik geschrieben. Seine Werke bedeuten für Musiker wie Hörer Arbeit im besten Sinne. Doch viele Muster in den Stimmen sind sehr deutlich, regelrecht signalhaft, so daß man das Verhältnis der Einzelstimmen zueinander schon nachvollziehen kann. Und dieses Verhältnis ist bei jeder Aufführung anders.

Straebel: Sie hören sich auch beim Spielen ganz anders zu.

Blum: Ja, ich kenne die anderen Stimmen sehr genau, nehme aber keine Rücksicht auf sie.

Straebel: Aus ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Feldman können Sie zu einigen aufführungspraktischen Details von Why Patterns? Auskunft geben, die aus dem Notenmaterial nicht eindeutig hervorgehen. Was ist zum Beispiel zur dynamischen Gestaltung zu sagen?

Blum: Es gibt in der Partitur keine dynamischen Angaben, und auch kein Vorwort. Eigentlich eine Situation wie in der Barockmusik, in der der Komponist nur das notierte, was unbedingt nötig war. Denn er wußte, für wen er schrieb, er kannte ja die Musiker, die das Stück spielen würden. Wir sprachen bereits das letzte Mal davon, daß man bei dieser Musik nicht allein von den Noten ausgehen kann, sondern sich mit dem Umfeld des Werkes beschäftigen muß. Ich hatte das Glück, die Uraufführung zu spielen und mit dem Komponisten intensiv zusammenzuarbeiten. Aber auch so ist es offensichtlich, daß hier piano gespielt werden muß, und nicht, wie es immer wieder geschieht, mezzoforte.

Straebel: Im ersten Takt schreibt Feldman vor, durch Pedalisierung in Töne in Klavier (ped.) und Glockenspiel (v.l.) ausklingen zu lassen.

Blum: Richtig, auch in dieser Hinsicht handelt es sich um eine Aktionsvorschrift, die nur bedingt darüber Auskunft gibt, was an einer bestimmten Stelle gerade erklingt. So sind auch die drei leeren Takte am Ende des Stückes zu verstehen: so lange bleibt das Pedal des Flügels noch niedergedrückt, danach aber ist das akustische Gebilde beendet. Feldman hat da sozusagen das Ende des Ausklingens komponiert.

Straebel: Bei den frühen Klavierstücken wäre eine solche Behandlung des Schlusses aber sehr problematisch.

Blum: Das kann gut sein, ich spreche hier nur von diesem Stück unmittelbar Verwandtem, wie Crippled Symmetry.

Straebel: Wie gehen Sie nun genau beim Übergang von den nicht koordinierten Einzelstimmen zur traditionell notierten Coda vor?

Blum: Am Anfang haben wir, also Jan Williams (Perkussion) und ich, sehr oft gemeinsam mit Feldman am Klavier gespielt - und Feldman hat das Tempo seiner Stimme immer ein bißchen manipuliert. So hat er sein bevorzugtes Ende vor Einsatz der Coda herausgefunden. Das war - und ich betone: das muß nicht unbedingt so sein -, daß das Glockenspiel als erstes aufhört, dann die Flöte aufhört, und etwa das letzte System des Klaviers auf Seite 13 allein erklingt. Wenn dann der letzte Anschlag des Klaviers fast verklungen ist, setzt man mit der Coda ein.

Straebel: Feldman setzte dort also eine Fermate, die er nicht notiert hatte. Eigentlich steht dort ein Vierklang von einer Halben Länge.

Blum: Ja, sein Gedanke war, die Musik sich entfernen zu lassen, bis dann eine ganz andere wieder einsetzt. Würde man nicht manipulieren, wäre die Klavierstimme übrigens um etwa fünf Minuten zu lang. Auch hat Feldman auf Seite 5 die Wiederholungszeichen im Glockenspiel erst nachträglich eingefügt. Er hat zwar immer in Interviews behauptet, daß das alles berechnet sei und aufginge, aber das stimmt nicht.

Straebel: Zurück zur Dynamik. Wie setzen Sie nun genau das piano in der Flötenstimme um?

Blum: Wenn die Altflöte in hoher Lage spielt, ist sie verhältnismäßig laut. Unter einer bestimmten Dynamik sprechen die Töne gar nicht an, und es ist falsch, so zu spielen, daß der Ton ständig wegkippt. Der Ton soll einen natürlichen, klaren Ansatz und Klang haben. Und durch die weiten Registerwechsel werden die tiefen Töne sehr viel leiser.

Straebel: Sie könnten dies ja ausgleichen, und die tiefen Töne entsprechend lauter nehmen.

Blum: Nein, das ist aber dem Stück nicht angemessen. Die tiefen Töne sind in natürlicher Weise leiser, ohne daß sie mickrig oder hauchig klingen sollen.

Straebel: Das beschreibt die Balance innerhalb der Flötenstimme. Wie aber verhalten sich die drei Instrumente dynamisch zueinander?

Blum: Das Glockenspiel ist ja von Natur aus kein lautes Instrument, und Feldman wünschte nicht, daß der Spieler während des Stückes die Schlägel wechselt. Die Klangfarbe bleibt also die ganze Zeit gleich. Jan Williams hat Feldman viele verschiedene Schlägel vorgespielt, und er benutzt jetzt immer welche mit Kunststoffköpfen, die mit Dr. Scholl's muleskin umwickelt sind.

Straebel: Und das Klavier?

Blum: Das muß sich ganz besonders den akustischen Gegebenheiten des jeweiligen Aufführungsortes anpassen. Auf jeden Fall müssen bei den Mehrklängen die Einzeltöne deutlich zu hören sein. Es darf nicht die Gefahr bestehen, daß dem Spieler ein Ton wegbleibt weil er Angst hat, er wird zu laut. Sonst entsteht solch ein mickriger, brüchiger Klang, von dem Feldman niemals gesprochen hat. Sein eigenes Spiel hatte immer einen satten, vollen Klang.

Straebel: Das Verhältnis der Einzelstimmen ist auch von der Positionierung der Musiker auf der Bühne abhängig.

Blum: Zweifellos. Der Flötist sitzt und der Glockenspiel-Spieler steht. Das Klavier ist vom Publikum aus gesehen auf der linken Seite, der Flötist sitzt in der Mitte und rechts steht der Glockenspiel-Spieler. Dabei ist die Entfernung der Musiker voneinander vom Raum abhängig. Feldman hat uns bei solchen Proben bis zum Umfallen damit gequält, immer wieder andere Positionen einzunehmen. Das hat ihm einen teuflischen Spaß gemacht, seine Stücke auch in ungünstigen Räumen durch geschickte Plazierung zu retten.

Straebel: Feldman hätte doch aber auch die Aufstellung der Instrumentalisten in der Partitur fixieren können. Das wäre ja für Neue Musik nichts Ungewöhnliches.

Blum: Er war einfach nicht der Typ dafür. Nils Vigeland hat ihn ziemlich früh darauf hingewiesen, daß es Katastrophen geben würde, wenn andere Leute das spielten. Aber er meinte immer: "Ja, wenn die Leute sich wirklich mit meiner Musik beschäftigen, dann werden sie es schon richtig machen."

Straebel: Feldmans Standpunkt war aber nicht, einfach zuzulassen, daß es grundverschiedene Arten gibt, seine Stücke zu spielen?

Blum: Nein, absolut nicht. Feldman hat das Aufführen immer mit dem Hängen einer Ausstellung verglichen. Die Bilder bleiben stets gleich, wenn sie auch anders beleuchtet werden können.

Straebel: Nun ließe sich doch - um einmal eine Gegenposition zu formulieren - argumentieren, daß die musikalische Faktur gleich bleibt, und eine Interpretation in mezzoforte verleiht dem Ganzen einen anderen Charakter, so wie ein anderes Licht auf einem Bild.

Blum: Aber nein, das wäre so, als wenn Sie auf einen Rothko einen Punktscheinwerfer richteten. Das geht wirklich nicht, es gibt Grenzen des Geschmacks. Die Klänge sind einfach nicht so konzipiert, daß sie dramatisiert werden könnten.

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Straebel: Ein Stück, das ebenfalls nicht in einer eigentlichen Partitur, sondern in nicht koordinierten Stimmen fixiert ist, ist Ryoanji von John Cage. Hier besteht das Material aus fünf Einzelstimmen für Flöte, Oboe, Posaune, Stimme und Kontrabaß, die in beliebiger Besetzung kombiniert werden können. In jedem Fall tritt ein obligates Ostinato hinzu, das ein langsames Metrum in "koreanischem", also etwas ungenauem Unisono spielt, in dem gelegentlich einzelne Schläge fehlen. Dies kann entweder ein Schlagzeuger mit mindestens zwei Instrumenten unterschiedlicher Familien (Fell, Metall, usw.) oder ein Ensemble von bis zu 20 beliebigen Instrumenten übernehmen. Für Ihre Realisation in der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg haben Sie in besonderer Weise auf den titelgebenden japanischen Steingarten Bezug genommen.

Blum: In dem Steingarten, auf den Cage sich hier bezieht, liegen 15 sehr verschieden große Steine in fünf Gruppen angeordnet in einem rechteckigen Feld etwa von der Größe eines Tennisplatzes. Dieses Feld ist mit Sand ausgefüllt, der in parallelen Linien geharkt ist. Für das Konzert in der Akademie habe ich nun einen Bereich für die Musiker angelegt, dessen Maße mit denen des Gartens übereinstimmen. Die Spieler befinden sich etwa an den Orten, an denen sonst die großen Steine liegen.

Straebel: Sie haben also die Maximalbesetzung mit fünf Instrumentalisten gewählt.

Blum: Ja, mir scheint, daß wenn man weniger Stimmen spielt, man keinen richtigen Eindruck von dem Ryoanji-Garten erhält, so als hätte man eine Photographie, auf der nur ein Ausschnitt des Gartens zu sehen ist, und einige Steingruppen fehlen. So gibt es überhaupt keinen Eindruck von der Gesamtsituation.

Straebel: Cage hat aber die Aufführung mit kleinerem Ensemble ausdrücklich zugelassen.

Blum: Da glaube ich, daß Cage sich selbst treu bleiben wollte mit dieser Option.

Straebel: Jede Einzelstimme enthält acht, im Falle von der für Stimme neun als "Garten" bezeichnete Sätze zu vier Systemen, in denen die glissandierenden Tonverläufe graphisch eingezeichnet sind. Wie auch in seiner im Entstehungsjahr von Ryoanji, 1983 begonnenen Serie von Bleistiftzeichnungen Where R = Ryoanji, legte Cage Zufallsverfahren folgend Steine aufs Papier, die er mit dem Stift umkreiste. In der Partitur sind natürlich nur Ausschnitte dieser Ovale fixiert, weil die gewählten Instrumente keine zweistimmigen Glissandi hervorbringen können. An manchen Stellen liegen jedoch Linien verschiedener Form (durchgezogen, gestrichelt, in Punkten) übereinander, die nur mittels vorproduziertem Tonband umgesetzt werden können. Diese zusätzlichen Stimmen sind jedoch ad libitum. Es gibt kein festes Tempo, einzig in der Vokalstimme gibt Cage die Dauer eines "Gartens" mit "etwa 2 Minuten" an.

Blum: Für meine Realisation habe ich einen Zeitplan gemacht, der zunächst festlegt, daß die Aufführung eine Stunde und jeder "Garten" zwei Minuten dauert. Dann ist hier verzeichnet, wann welche Instrumente spielen.

Straebel: Sind auch die Nummern der zu spielenden "Gärten" vorgeschrieben?

Blum: Ja, die folgen der Reihenfolge der Partitur. Vor der ersten Probe wußte also schon jeder Musiker, wann er mit welchem Abschnitt drankommt. Desweiteren haben die Spieler in dem Aufführungsraum ihre zweiten und dritten Stimmen für das Zuspielband aufgenommen. So wurde gewährleistet, daß es keine raumakustischen Brüche geben konnte.

Straebel: Die werden doch aber nicht völlig auszuschließen gewesen sein.

Blum: Doch, doch. Die Wiedergabelautsprecher wurden bei der Aufführung in unmittelbarer Nähe der Musiker plaziert. In Einzelproben wurden Tonband und Live-Spiel genau ausgepegelt, so daß der Hörer praktisch keinen Unterschied wahrnehmen konnte. Mich haben nach den Konzerten sogar Leute darauf angesprochen, daß sie mich spielen gehört hätten, obwohl ich die Flöte abgesetzt hatte. Es ist also gelungen, aber das ist auch die mühselige Arbeit zweier Tontechniker vom Rundfunk gewesen.

Straebel: Die Gestaltung der Glissandi stellt vor allem Flöte und Oboe vor immense Schwierigkeiten. Hier dürfte wohl kaum eine Feldman'sche Klangkultur zu erzielen sein.

Blum: Nein, aber das ist auch gar nicht verlangt. Bei den Griffwechseln ergeben sich Brüche und Doppelklänge zuhauf, aber auf die weist Cage in der Partitur auch ausdrücklich hin. Auch entsteht oft ein Obertonflirren, wenn sich die Stimmen der Zuspielbänder mit dem Live-Part kreuzen und sich die Klänge aus dem unisono herausdrehen. Ryoanji ist ganz einfach ein Werk von einer unglaublichen Komplexität und mit einem Klangreichtum im Detail, der von vielen Werken, die genau notiert sind, überhaupt nicht erreicht wird. Hier stehen sich höchste Präzision in der Festlegung des Tonhöhenverlaufes und große Freiheit in der Klanggestaltung genial gegenüber.

Straebel: Für das Schlagzeug ist nun vorgeschrieben, daß es etwa zwei "Takte" (die Takte haben etwa 11 bis 14 Schläge) vor dem ersten Einsatz eines anderen Instrumentes beginnt und erst nach dem Ende des letzten Solos aufhört.

Blum: Weil ich eine sehr lange Aufführung vorhatte, habe ich entschieden, das Schlagzeug am Beginn zwei Minuten und am Ende drei Minuten allein spielen zu lassen. Nach einigem Überlegen habe ich den Schlagzeuger auch in den Bereich unseres Gartens gesetzt, obwohl er ja eigentlich nicht zu den Soloinstrumenten gehört. Aber der geharkte Sand, den er symbolisiert, ist ja auch nur innerhalb dieser Fläche.

Straebel: Nun sind zwei Minuten Schlagzeugsolo am Beginn aber deutlich mehr als die von Cage geforderten "etwa zwei Takte".

Blum: Ja, aber da ich die Proportionen des Stückes sehr gedehnt habe, mußte ich auch den Anfang entsprechend großzügiger gestalten. Man muß ja ersteinmal eine gewisse Ruhe für das Folgende schaffen.

Straebel: Wie hat denn das Publikum reagiert?

Blum: Das Publikum war ganz phantastisch. Ich habe selten an einer Veranstaltung mitgewirkt, in der solch eine Konzentration herrschte. Es war im Sommer und sehr heiß, so daß wir die Türen aufgelassen haben und S-Bahn, Vogelzwitschern und Stadtgeräusche immer im Hintergrund hatten, was ja ganz vorzüglich zu dem Stück paßt. Um die "Gartenfläche" herum waren mehrere Reihen von niedrigen Sitzbänken mit Kissen angeordnet, und nach etwa fünf Minuten waren die Leute so ruhig, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Die Hörer waren wirklich wie verzaubert und fragten mich nachher - jetzt kommt wieder mein polemischer Nachsatz - "warum passiert soetwas in Berlin nicht öfters?"

Straebel: Und Ihre Antwort?

Blum: "Weil man mich nicht läßt." Wir haben sehr intensiv an der Sache geprobt und ich habe von den Musikern verlangt, daß sie eine ganze Woche für dieses Projekt zur Verfügung stehen. Machen Sie das mal in Berlin, wo die meisten Musiker ihre Orchesterdienste haben und Neue Musik nur nebenbei spielen wollen. Erfolgreiche Aufführungen der Musik unserer Zeit gelingen nicht als Nebenprodukte des Musiklebens.


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leicht verändert unter dem Titel " Zur Interpretation Neuer Musik. Zwei Gespräche über ausgewählte Werke zwischen Eberhard Blum und Volker Straebel" in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, H. 31 (Mai 1997), S. 40-45 (1. Gespräch) und H. 32 (August 1997), S. 38-42 (2. Gespräch)
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission



Anmerkungen

(1) Roman Haubenstock-Ramati: Musik-Grafik Pre-Texte, Wien 1980, S. 9

(2) ibd. S. 6

(3) Brief von Bernd Alois Zimmermann an den Interpreten der Uraufführung Severino Gazzelloni vom 5.11.1963, zit.n. Wulf Konold: Bernd Alois Zimmermann, Der Komponist und sein Werk, Köln 1986, S. 184

(4) Alea. Eberhard Blum spielt Flötenstücke von Bernd Alois Zimmermann, Roman Haubenstock-Ramati, Luis de Pablo und Tona Scherchen, hat ART CD 6180

(5) Bernd Alois Zimmermann: "Tempus loquendi - Spielanleitung in drei Versionen", Schott Mainz, 1965, ED 5413

(6) Spielanweisung in Tempus loquendi, Nr. 13

(7) Brief von Zimmermann an Gazzelloni, a.a.O.

(8) Anmerkung in Tempus loquendi, Nr. 1

(9) Die Universal Edition Wien teilt zu diesem Thema mit, daß der Komponist sich zur Umsetzung in die traditionelle Schreibweise entschloß, weil sich die proportionale Notation nicht durchgesetzt habe. Als Entstehungszeit für die Umarbeitung darf das erste Halbjahr 1992 gelten. (Brief von Heinz Stolba, Lektor der Universal Edition / Wiener Notenstecherei an Volker Straebel vom 11.11.1996).

(10) "I am very much attracted by this slow and and dignified transformation of instruments and techniques across the centuries. This is perhaps why, in all of my Sequenzas, I have never tried to alter the nature of the instrument, nor to use it "against" it own nature. In fact, I have never been able to insert screws and rubbers between the strings of a piano, nor even to attach a contact microphone to a violin." Luciano Berio: Two Interviews with Rossana Dalmonte and Bálint András Varga, translated and edited by David Osmond-Smith, New York 1985, S. 92

(11) Morton Feldman: Crippled Symmetry, in ders.: Essays, hrsg. v. Walter Zimmermann, Kerpen 1985, S. 124-137, hier S. 129