Konzertandacht

"place" von Antoine Beuger in der Zionskirche uraufgeführt

Eine Konzertminiatur. Nach exakt zehn Minuten und 21 Klängen verläßt der Cellist Christian Raudszus wieder seinen alten Holzstuhl auf der orgellosen Empore der Zionskirche. Antoine Beugers "place" von 1996/97, das er zur Uraufführung brachte, ist ebenso konzeptionell angelegt wie die Reihe von Solistenkonzerten, in der es erklang: seit Januar und bis zum Jahr 2000 wird jeden Dienstag um halb acht der Kirchenraum in Berlin-Mitte zum Ort eines 10-minütigen "musikalischen Ereignisses". In der Tradition John Cages sensibilisiert "place" den Hörer für seine akustische Umgebung sowie das Wahrnehmen selbst. Fast zwei Minuten verharrte Raudszus in Stille, bot das sanfte Rotbraun seines Cellos der versenkenden Betrachtung dar, bevor er anhob, in ruhigem Wechsel von Klang und Pause Zeit zu musikalisieren. Die Partitur gibt ihm in graphischen Skizzen nur ungefähr die Punkte an, an denen er wie für ein Flageolett die Saiten berüherte, ohne sie ganz niederzudrücken. So entstanden zarte Vielklänge von einer Bogenlänge Dauer, die man sich allerdings in alle Zufälligkeit akzeptierender Präzision gewünscht hatte. Stattdessen suchte Raudszus mittels leichter Korrekturen die Klänge besonders interessant zu gestalten und gab ihnen durch crescendierenden Strich eine dynamische Gestalt, die sich nicht so recht in die puristische Konzeption des Stückes fügen wollte.

Die zweite Hälfte der Aufführung bestand wiederum aus Stille, einer Stille jedoch, die die Natur- und Verkehrsgeräusche des frühlingsabendlichen Zionskirchplatzes zum Konzert erhob. Die zerbrochenen Beliverglasungen geben den Blick frei auf sacht wippende Kastanienblüten und ganz im Sinne der beiden Dickinson-Gedichte, die der Komponist in der Partitur zitiert, erhält der Außenraum seinen "Ort" erst durch das Verhältnis zur bereits verklungenen Musik. Carlo Inderhees hat mit seiner Konzertreihe, in der allwöchentlich Werke von rund 30 Komponisten aus aller Welt uraufgeführt werden, im laut sich wandelnden Berlin einen beständigen Raum der Konzentration geschaffen: die neue Form der Konzertandacht.

Volker Straebel 5.97


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leicht verändert unter dem Titel "Das Konzert als Andacht" in: Der Tagesspiegel (Berlin), 18./19. Mai 1997
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