John Cage: "Atlas Eclipticalis with Cartridge Music"

Aufführung mit dem Kairos-Quartett und Andre Bartetzki / Volker Straebel, Live Elektronik in Leipzig 1998

Cartridge Music

Bereits in seinen frühen live-elektronischen Stücken der vierziger Jahre hatte Cage sogenannte "small sounds" vorgesehen, Klänge, die so leise sind, daß sie ohne Verstärkung nicht oder fast nicht hörbar sind. Ausschließlich solchen "kleinen Klängen" widmete er 1960 ein ganzes Stück, "Cartridge Music", in dem eine Gruppe von Musikern mit Hilfe von bei Schallplattenspielern üblichen Tonabnehmern geräuschhafte Klänge erzeugt, während eine andere deren elektrische Verstärkung und Filterung steuert. Die aus einem Satz graphischer Blätter und Transparentfolien bestehende Partitur von "Cartridge Music" bestimmt die musikalischen Verläufe nicht im Sinne einer konventionellen Notation. Sie ermöglicht es vielmehr den Musikern, nach bestimmten Regeln Zahlenfolgen zu erzeugen, die Auskunft über die Dauer einzelner Aktionen, sowie den Grad von Verstärkung und Klangveränderung geben. Zum Ausgangsmaterial der live-elektronischen Manipulation gehören dabei die "kleinen Klänge" innerhalb der Tonabnehmer ebenso wie außerhalb der Tonabnehmer entstehende Störgeräusche.

Aus dem Partiturmaterial von "Cartridge Music" gewonnenes Zahlenmaterial verwandte Cage im gleichen Jahr zur Strukturierung seines Vortrages "Where are we going? And what are we doing?", wie auch später zur Gestaltung anderer Texte. Außerdem sieht die Partitur ausdrücklich ihre Anwendung auf traditionelle Instrumente wie Cymbal oder Klavier vor. So nimmt es nicht wunder, daß Cage bei einigen später entstandenen Instrumentalwerken vorschlägt oder vorschreibt, die live-elektronische Manipulation der Aufführung unter Verwendung von "Cartridge Music" vorzunehmen. Diese Anweisung findet sich auch in der Partitur von "Atlas Eclipticalis" (1961). Was in der ursprünglichen Fassung der "Cartridge Music" die in den Tonabnehmern erzeugten Schab- und Kratzgeräusche waren, sind nun die von den Orchesterinstrumenten hervorgebrachten Klänge, die mittels Kontaktmikrophonen dem live-elektronischen System zugeführt werden. Ein Tonmeister steuert hier, einem Musiker gleich, nach genauer, aus der Partitur von "Cartridge Music" abgeleiteter Vorschrift, deren elektronische Veränderung und Verstärkung. Ebenso werden von den Instrumentalisten unabsichtlich erzeugte Störgeräusche in den live-elektronischen Part einbezogen.

Hatte die Verstärkung der "kleinen Klänge" in der ursprünglichen "Cartridge Music" die sinnfällige Funktion, diese überhaupt erst hörbar zu machen, etabliert sie in der Aufführung mit "Atlas Eclipticalis" eine zusätzliche musikalische Ebene. Jedem Musiker ist ein Lautsprecher zugeordnet, der den Instrumentalklang nicht einfach auf der Bühne verdoppelt, sondern ihn in den Zuschauerraum hinein verlagert. Vor allem durch die Klangveränderung entstehen um das Publikum herum verteilte Spiegelinstrumente, die einerseits in offensichtlichem Verhältnis zu den realen Instrumenten auf dem Podium stehen, andererseits ein anderes Stück spielen, "Cartridge Music" nämlich. So emanzipiert sich in dieser Simultanaufführung der live-elektronische Klang von seiner akustischen Quelle. Die Lautsprecher treten nicht einfach akzidentiell zur traditionell musizierten "Atlas Eclipticalis" hinzu, sie setzen vielmehr einen völlig gleichberechtigten Kontrapunkt.

Volker Straebel 98

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leicht verändert im Programmheft
© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission